Walk away.

Heute vor genau 14 Jahren ist diese Geschichte passiert. Ich habe sie zwischen 2008 und 2013 aufgeschrieben. 2014 als PDF hier veröffentlicht. Der verbesserten Lesbarkeit halber veröffentliche ich es hier noch einmal als Blog-Longread.

Trigger-Warning: Tod, Tod eines Kindes


Needed you tonight.

Ich möchte gerade eben fahren. Doch Gedanken fressen sich in meinen Kopf. Ich will da eigentlich gar nicht hin, keine zehn Pferde sollten es schaffen mich dorthin zu schleppen. Aber verabredet ist verdammt noch mal auch verabredet. Ich könnte mir eigentlich ins Knie schießen, so dumm war die Annahme, dass zumindest dieser Abschlussball etwas Groß- und Einzigartiges sein würde. Abschlussbälle sind naturgemäß unter aller Sau. Selbst der eigene war nur deswegen so genial, weil wir einfach die Coolsten waren. Doch das lag schon hinter mir. Zwar nur wenige Monate, aber immerhin. Und selbst die Freundin, für die ich mir all das antat, hatte sich schlussendlich beschlossen, ihre Klasse freiwillig zu wiederholen. Einzig und allein die Tatsache, dass vieles auf diesem Ball aus ihrer Feder stammte, sollte schließlich Anlass genug sein, um mir diese Gräueltat anzutun. 

Timi beginnt an diesem Abend immer wieder zu husten. Bronchialhusten würde man es nennen, ein bellender Schrei aus diesem kleinen Kindermund. Erst vor wenigen Monaten hat er seinen ersten Geburtstag gefeiert, mit seinen beiden Großmüttern, seinem Vater, seiner Mutter und ihrem neuen Freund und eben mir. Was waren das damals nur für sonnige Tage. Jetzt stoßen bei jedem Husten Tränen aus seinen Augen hervor. Meine Mutter bemüht sich, ihn gesund zu pflegen. Mit einer heilenden Salbe, mit einem lauwarmen Tee. Und ich halte ihn, weinend, schreiend und hustend auf meinem Arm. Dieses kleine sanfte Wesen, so voller Schmerz. Und ich so hilflos. Ich kann ihm nicht helfen. Nur langsam durch das Wohnzimmer schlendern, ihn am Rücken streichelnd. Und er legt die Arme um meinen Hals und meine Schulter, das Gesicht mir zugewendet. Den Blick werde ich nie vergessen, und die Tränen, die langsam auf mein T-Shirt fallen. Zum ersten Mal umarmt er mich er mich so, schenkt mir all seine Wärme und ich. Ich mache mich schließlich auf den Weg zu diesem ach so bescheuerten Abschlussball.

Aufgrund meines Fahrertums verdonnere ich mich zur Alkoholabstinenz. Ich habe auch wirklich nicht gerade Lust dazu, mich mit diesem Bullshit volllaufen zu lassen, um dann peinlich herumzuspazieren und wieder einmal Dinge zu tun, die ich anschließend bereuen werde. Erst vor einem Tag etwa habe ich erfahren, was meine Schwester sich selbst und uns zugefügt hatte. Ich konnte es anfangs nicht glauben, aber meine Mutter bestätigte es, bis es mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Was soll das heißen: Selbstmordversuch? Das machen doch nur. Nein. Sage es nicht, Dominik. Denke es dir nicht einmal. Auch du hast schon einmal darüber nachgedacht, und die wichtigste Frage war schließlich immer nur, wer denn wohl so richtig trauern würde. Wer sich denn nun aller Sorgen machen würde. Es wäre die Aufmerksamkeit, die einem das Gefühl geben würde, dass all das eben doch Sinn geben würde. Aber es ist egal, jetzt im Moment. Ich stehe hier, im Anzug mit Hemd und Krawatte und diese elendigen Schuhen. 

Alle Menschen um mich herum (und die Betonung liegt hier auf: alle) sind sturzbetrunken. Die Aufmachung des gesamten Balls hat wohl ihres dazu beigetragen, dass die Besucher nur mehr im vollen Suff diese Veranstaltung verlassen können. Eine gute Freundin, damals, kommt plötzlich auf mich zu, und ihre Absichten waren mir schon im Vorhinein klar. Es würde uns beiden nichts bedeuten, nur an diesem Abend hier. Wir könnten es anschließend vergessen, es könnte in die Bedeutungslosigkeit verschwinden. Doch da steige ich aus. Das will und das kann ich einfach nicht. Ich kann nicht vergessen, und schon gar nicht Begegnungen mit Frauen. Jede zärtliche Berührung von einem Mädchen geht mir nie mehr aus dem Kopf. Vielleicht (nein, viel eher wahrscheinlich) ist das nicht unbedingt positiv, in einer Zeit, in der man sich ausleben sollte. Ficken für den Weltfrieden, würde man meinen. Aber es würde mir etwas bedeuten, und gerade eben das lässt mich zurückschrecken. Und eben auch diese Begegnung lässt diesen Abend zu einer schrecklichen Parade unverständlich miserabler Aneinanderreihungen negativer Begegnungen werden. Ich will nach Hause. Sofort.

Doch dazu kommt es nicht. Zuerst fahren wir noch zu einem Freund, der nicht unweit eine gemütliche Wohnung hat. Dort liefere ich den Großteil meiner Mannschaft ab und rauche eine unglaublich starke und unvorstellbar lange Zigarette. Kein Gras inside. Nicht jetzt, nicht heute. Wobei mir dieses Gefühl, sollte ich es denn endlich wieder einmal spüren, diese gesamte Anspannung wegnehmen würde. Mein Slogan wäre eher ‘Kiffen für den Weltfrieden’, und das, obwohl ich schon lange keinen Joint mehr in der Hand hielt. Und diese Zigarette soll für mich nun den Abschluss dieses Abends bedeuten, welcher beschissener nicht hätte laufen können. Um kurz nach zwei bin ich wieder zuhause. Blogge noch fröhlich von diesem Ball, mit wenig harten Worten, um nicht mitlesende Schüler dieser Schule zu beleidigen. Aber es war wohl einer der abgefucktesten Bälle, auf denen ich war. Außer natürlich den zweien vorher und dem einen danach. Irgendwann schlafe ich schließlich auch ein. Was für ein Tag. Was für ein Abend. Alles einfach nur Bullshit.

Breakin‘ down.

Als ich an diesem einen Sonntag aufwachte, mit einem Dröhnen im Kopf, als hätte ich mit dem ärgsten Kater zu kämpfen (und ich war ja bekanntlich mehr als nur nüchtern), war es irgendwas rund um Mittag. Timi war schon abgeholt worden, von seiner Mutter, meiner Schwester. Und so genoss ich noch die letzten Stunden des letzten Wochenendtages, bevor es am Montag schließlich wieder ab nach Bad Goisern gehen sollte. Wie jeden Tag. Zu meiner Zivildiensteinsatzstelle. Und diese Woche würde ich es gut haben. Da ja mein Papa diese eine Woche mit Freunden in Amerika war, würde ich jeden Tag etwas länger schlafen können, um dann um einige Minuten schneller in Bad Goisern zu sein, als es der Zug jemals schaffen würde.

Aber schon am Montag bin ich wieder etwas zu spät dran. Ich überlege sogar noch, ob ich bei meiner Schwester und Timi vorbeischauen soll. Auf einen Kaffee und ein schnelles Frühstück. Sie würde schon auf sein und Timi auch. Und so könne ich mit diesem Kinderlächeln in die Arbeit starten. Doch ich blinke nicht und ich lenke nicht in die Einreihspur. Ich fahre weiter. Es würde sich nicht ausgehen, ich würde schließlich zu spät in meine Zivildiensteinsatzstelle kommen. Und so fahre ich diese halbe Stunde noch weiter, bis ich schließlich meinen Platz an diesem Schreibtisch einnahm. 

Der Zivildienst war nichts Weltbewegendes. Ich persönlich würde heutzutage einfach sagen, dass das einzige Soziale an diesem Zivildienst die Organisation war, für welche ich arbeitete. Die Arbeit selbst, die ich zu erledigen hatte, hätte leicht aufgeteilt werden können und meine Stelle wäre nicht nötig gewesen. Und nachdem ich Tage davor wieder zu rauchen begonnen hatte (und schon wieder hatte ich es nicht geschafft, wirklich damit aufzuhören; aber wollte ich das denn?), nutze ich die Halbzeit bis zur Mittagspause für eine Zigarette. Als ich wieder ins Büro zurückkomme, vibriert mein Handy. Eine mir unbekannte Nummer. Soll ich abheben? Natürlich … und so bin ich selbst heute noch, war ich zu feige, um abzuheben und um mich mit einen nicht vorhersehbaren Gespräch zu konfrontieren. Würde die Nummer noch einmal anrufen, dann würde ich es tun. Minuten später läutet das Telefon im Büro. 

Und zum ersten Mal werde ich an den Apparat geholt. Es ist meine Mutter. Und ich weiß, dass – da sie ja normalerweise nicht wegen jedem möglichen Blödsinn anruft – irgendetwas passiert sei. Den folgenden Worten fehlt jeglicher Bezug zur Realität. Timi könne nicht tot sein. Nein, Timi wachte nicht mehr auf. Er sei gestorben, im Schlaf. Plötzlich, nicht vorhersehbar. Nein, das … das kann nicht sein. Ich würde nach Hause kommen. Nein, ich fahre mit dem Auto, ich muss mit dem Auto fahren. Sprecherwechsel. Ein Typ des Kriseninterventionsteams. Ich müsse mit dem Zug fahren, das Auto würden sie schon holen. Ich könnte in diesem Zustand nicht fahren. Ich stimmte ihm zu. Bedankte mich. Und legte auf.

“Mein. Mein Neffe ist. Gestorben.” Betretene Blicke im Büro. Wir waren hier sowieso nur zu dritt. Und ich frage, ob ich denn jetzt nach Hause fahren könne. Und nachdem ich meine ganzen Sachen zusammengepackt habe, steige ich ins Auto und fahre los. Seit diesem einen Anruf zittere ich. Und was mich überrascht: ich kann nicht weinen. Obwohl ich es so sehr will. Aber das wäre natürlich während der Autofahrt nicht hilfreich. Dafür rauche ich, eine Zigarette nach der anderen. Das Fenster leicht geöffnet und kaum mehr normal atmend. Ständig dachte ich, was das hier wohl nur für ein beschissener Scherz sei. Das könne nicht sein. So etwas passiert zwar. Aber nicht uns. Nicht mir. Was für ein schlechter Scherz war das nur. Die ganze Zeit “The Drugs Don’t Work”. All these talks of getting old. Du hättest alt werden sollen. So viele Pläne hatte ich mit dir. So viele Träume. Gestern Nacht habe ich an dich gedacht. Heute morgen. Als du wahrscheinlich schon tot warst.

Nach geschätzten vierzig Minuten bin ich zuhause. Von nun an würde ich konfrontiert werden. Und nicht mehr fliehen. Das würde es sein. Ich gehe die Treppe hinauf, das Gitter, welches wir wegen Timi angebracht haben, mache ich hinter mir zu. Und gehe in Richtung des Wohnzimmers. Was soll man in einen solchen Moment sagen? Sind Worte hier überhaupt nötig? Ich befinde mich nur in der dritten Reihe. Ich bin nicht die Mutter. Nicht die Großmutter. Ich bin der Onkel. Und so nehme ich einfach nur in den Arm, was auf mich zukommt. Meine Mutter, zuallererst. Tränen, auf ihrer Seite. Meine Schwester, auch bei ihr Tränen. Und keine Chance, eine der beiden zu beruhigen. Wie könne man nur. Man ist hilflos. Hilflos unter dem Druck dieser Trauer, welcher wie Messerstiche sein Unwesen treibt.

“Und Papa. Papa ist nicht zuhause.” Immer und immer wieder sagt meine Schwester diese Worte. Ja, er vergnügt sich zurzeit noch in Amerika. Irgendwo in Las Vegas. Oder Atlanta. Ohne dem Wissen, dass sein Enkel seit Tagesbeginn tot und unsere Welt auf unbestimmte Zeit eine Ruine sein wird. Irgendwann, im Laufe des Nachmittags (das Zeitempfinden war seit der frühen Nachricht am Telefon aufgehoben, und das für einige Tage), taucht Gerhard auf, unser Pfarrassistent und ein guter Freund der Familie. Er redet mit uns, lässt uns schweigen und nimmt uns in den Arm. Und manchmal weint auch er. Beziehungsweise, an diesem einen Tag, nur einmal sichtbar für mich. Als ich mich entschieden habe, mir die Aufgabe aufzubürden, zu meiner Großmutter zu fahren, um ihr von dieser Nachricht zu erzählen. Er begleitet mich. 

Als ich in das Zimmer trete, einige Leute sind gerade zu Besuch bei meiner Oma, sehe ich in die Gesichter von ihr und meiner Tante. Und kann plötzlich gar nichts mehr sagen. Der Kloß in meinem Hals wird immer größer, für einen kurzen Moment fanden sich Tränen in meinen Augen. Man weiß hier schon, was geschehen war. Meine Mutter hat zuvor schon mit meiner Tante telefoniert. Und sie würde auch meinen Onkel in Amerika anrufen, damit dieser meinem Vater davon erzählte. Und nachdem wir die gesamte traute Runde zerstört haben (einige flüchteten vor der erdrückenden Macht der Trauer), kann ich anschließend wieder mit meiner Tante nach Hause fahren. Und bloggen.

Ja. Ich bloggte. Das ist auch der erste Moment an diesem Tag, an dem ich auch nur annähernd weine. Das Wieder-in-Erinnerung-Holen so vieler Erinnerungen schafft eben so etwas. Aber ich zittere. Immer noch. Die große Sintflut kommt bis jetzt noch nicht. Und irgendwann beginne ich zu telefonieren. Maria, Elisabeth, Sarah, Lukas, Stefan, Magdalena. Und zuallererst denke ich an sie, Maria. Sie hat ihn, von all meinen Freunden, am Häufigsten gesehen. Sie war dabei, als er getauft wurde. Und sie ist der Mensch, von dem ich einfach nicht loszukommen schien. Und scheine. Und dann mache ich mich auf. Magdalena hat mir angeboten, dass ich bei ihr vorbeikommen könne. Und Lukas auch. Gespräche. Mit Freunden. Und endlich raus aus dieser Gegend hier. Aus diesem schwarzen Fleck hier auf der Erdkugel. Die Gespräche tun gut, doch es sind nur meine Freunde, die weinen. Diese Gefühlsregungen habe ich noch nie mitbekommen, wobei ja auch dieser Fall hier vollkommen einzigartig zu sein scheint. Nur ich stehe da. Sozusagen als Seelsorger für die Freunde der Angehörigen.

Als ich dann nach Hause komme, liegen meine Schwester und meine Mutter auf der Couch. Sprechen miteinander, weinen. Lenken sich irgendwie ab. Ich sitze am Tisch und schreibe am Notebook, so wie ich es jetzt gerade wieder tue. Ich warte und rauche und warte. Irgendwann sind die beiden eingeschlafen. Eine Decke für sie. Das Licht aus. Die Treppe hinunter und hinein in mein Zimmer. Einmal tief durchatmen. Es ist kurz nach Mitternacht. Das kann es doch wohl nicht sein.

Temporary Remedy.

Als ich am nächsten Tag aufwache, ist die Welt noch genau so, wie ich sie gestern verlassen habe. Ich habe es über Nacht nicht vergessen und so ist mein erster Gedanke an diesem Tag ident mit dem letzten Gedanken kurz vor dem Einschlafen. Das kann es ja wohl nicht sein. 

Ich marschiere hinauf, ins Wohnzimmer, wo meine  Schwester und meine Mutter gestern Nacht, leer von jeglicher Energie, und wahrscheinlich auch von jeglichem Lebenswunsch, eingeschlafen waren. Die Decken sind noch nicht weggeräumt und irgendwie wirkt dieses Haus hier noch ruhiger, als es üblicherweise sowieso schon ist. Eine Zigarette am Morgen, auf der Terasse. Und den Kopf voller Gedanken. Ich könne ja nach München fahren und Papa vom Flughafen abholen. Ich muss meinen Text noch abändern und umschreiben und verbessern, wenn ich ihn den wirklich am Begräbnis vortragen möchte, so wie es sich meine Schwester gewünscht hat. Ich. Ach, man sollte mich doch einfach nur vorschicken, für alles und jeden. Ich möchte all das organisieren, möchte. Möchte.

Meine Mutter kommt ebenfalls auf die Terasse. Es folgt eine Umarmung. Sie nimmt sich eine Zigarette und beginnt zu erzählen. Das nervliche Abschiednehmen meiner Mutter von Timi. Ganz alleine. In ihrem Bügelzimmer. Sie müsse ja noch schnell bügeln, damit sie fertig ist, bevor Timi an den Kabeln ziehen kann. Und gleichzeitig weiß sie, dass er nicht gleich durch die Türe hereinschauen wird. Einfach nur weiterbügeln. Und einfach nur weinen.

Es vergeht einige Zeit, und Gerhard, unser Pfarrassistent  erscheint auch an diesem Tag wieder. Spricht mit uns. Lässt uns schweigen. Wir beide, er und ich, beginnen, über das Begräbnis zu sprechen. Ich erkläre, dass ich so gut es geht, vieles übernehmen möchte. Die Fürbitten, meinen Text, die Musik. Gegen Mittag ist es dann soweit. Mein Vater kommt mit dem Zug in Attnang-Puchheim an. Er hat seit der Nachricht gestern Nachmittag nichts geschlafen, kämpft mit Jetlag und allem drum herum. Als er aus dem Zug aussteigt, erblickt er mich, dann meine Mutter, seine Frau. Und zum ersten Mal, ja. Ich glaube zum ersten Mal seit ich mich erinnern kann, weint mein Papa. Er, der starke Mann, der Retter aus jeder Scheißlage, er, der auf alles eine Antwort weiß, steht jetzt einfach nur da, umarmt mich, ist ratlos und zutiefst schwach. In meinem Kopf beginnen die Gehirnwindungen wieder zu rattern.

‘Verdammt. Gerade auf dich hatte ich gehofft. Du bist doch normalerweise der starke Mann. Wir hätten uns die Verantwortung, die jetzt auf mir alleine ruht, teilen können. Wir hätten gemeinsam da sein können. Aber nein. Verdammt. Du bist schwach, du heulst, du.’ – Agierst zutiefst menschlich.

Nachdem immer mehr Leute in unser Haus kommen, wie jetzt z.B. die Taufpatin von Timi, beginnt meine Mama damit, zu kochen. Niemand will etwas essen (auch ich, der sonst nie lange nichts essen kann, hungere seit dieser Nachricht am gestrigen Morgen), doch trotzdem sie kocht. Spaghetti für zehn oder fünfzehn Leute. Sauce für wahrscheinlich noch mehr. Sie braucht einfach diese Abwechslung, diese Rückkehr zur Routine, die so wünschenswert aber doch so unmöglich ist.  

Entgegen meiner anfänglichen Behauptungen versuche ich es trotzdem, einige Bissen hinunterzukriegen. Der Tisch ist gedeckt, von den fünf Leuten essen nur zwei. Doch ein Problem habe ich. Der Platz, an dem Timis Sessel immer war (das war so ein rot-blauer Sessel, den man am Tisch anmacht, damit er nicht runterfällt oder irgendwie umfallen kann), stand ein ganz normaler herkömmlicher Sessel. Und schon war es zu Ende.

Rien ne va plus, würde man beim Roulette sagen. Die Gabel fällt zurück auf ihr Teller und ich renne, den Tränen nicht mehr nur nahe, sondern geradezu vor ihnen flüchtend, in einen anderen Raum. Den Abstellraum. Und weine mich dort zum ersten Mal seit Timis Tod aus. Ich weine und heule und schmecke das salzig-warme Wasser zwischen meinen Lippen. Ich sitze da, und will nicht mehr aufhören zu heulen. Will alles rauslassen, um endlich wieder voll durchstarten zu können, um wieder für alle da sein zu können. Für Michaela, meine Mama und … und meinem Papa. Plötzlich betritt eine weitere Person den Raum.

Meine Mama. Sie setzt sich zu mir auf den Boden, nimmt mich in den Arm, reicht mir ein Taschentuch. “Es ist schon gut. Lass’ es raus.” Und in ihren Armen aufgefangen, von meinem beinahe erdrückenden Schmerz und mir selbst aufgeladenen schmerzenden Druck befreit, lasse ich mich zum ersten Mal selbst fallen und bin so klein, so winzig, so hilflos, so unfähig und. So menschlich.

Der Tag vergeht. Irgendwann wird auch noch der Termin für das Begräbnis bekannt gegeben. Am Samstag würde es soweit sein und bis dahin müssen wir noch so vieles erledigen, denke ich. Aber vielleicht sollte man einfach nur in einem solchen Moment zu denken aufhören. Vielleicht würde all das die Sache irgendwie einfacher machen. Aber ich befürchte, dass es dafür schon viel zu spät ist.

Pleasure and Pain.

“Ich möchte Abschied nehmen. Ich möchte ihn noch einmal sehen. Als du mich damals gefragt hast, damals, als Opa starb, ob du mich holen sollst, habe ich nein gesagt. Weil ich nicht realisiert habe, dass das die letzte Möglichkeit sein sollte, wo ich seinen Körper sehen würde. Das soll hier nicht auch so sein. Ich will ihn noch einmal sehen.”

Meine Mutter nickt. Sie versteht, was ich meine. Und im Laufe des Tages würde sie auch kommen, die Nachricht, dass ich die Möglichkeit bekommen würde. Wir alle würden sie bekommen. In 2 Tagen würde sein Begräbnis stattfinden. Es ist eine beschissene Zeit, gerade. Morgen ist Allerheiligen und die (katholische) Welt trauert um ihre Verstorbenen, oder feiert, dass sie ihren Weg durch das Leben absolviert haben. Was auch immer. Freakin’ bullshit, das Ganze. Wie kann man den Tod von jemandem feiern, der gerade erst einmal eineinhalb Jahre alt geworden ist. Und wusch. Innerhalb eines Moments eben nicht mehr da war? Scheiß Glauben, scheiß Kirche. Ihr wisst schon. Scheiß Gott!

Ich war nie der zutiefst gläubige Mensch, auch wenn es normalerweise einfach sein sollte, mich für irgendetwas zu gewinnen. Aber jetzt gerade habe ich den letzten Funken Glauben an Gott, das höhere Wesen der katholischen Lehre, verloren. Falls er überhaupt exisitert. Und falls er wirklich so etwas ist, wie man ihn sich vorstellt, ist er ein unglaubliches Arschloch. So etwas macht man nicht, so etwas tut man keinem Menschen an. Nur Arschlöcher tun sowas.

Die Idiotie des Alltags und des Lebens holt uns in unserer Familie ein. Mein Vater hat seit 2 Tagen kaum mehr etwas gegessen, meine Mutter legt ständig Timis Kleidung zusammen, muss oft unterbrechen, weil sie weint. Und kann trotzdem nicht damit aufhören. Und meine Schwester liegt erwartungsgemäß die meiste Zeit herum und weint und manchmal schläft sie auch. Und ich mache mich auf, um mit unserem Pfarrassistenten – und in dieser Zeit unglaublich wichtigen Freund – das Begräbnis zu besprechen.

Ich würde die Fürbitten schreiben und sie auch vortragen. Und ich würde auch einen längeren Text vorlesen. Meine Mutter und … was mich überraschte, meine Schwester baten mich, das zu tun. Mein ganz persönlicher Abschied von der wichtigsten Person meines bisherigen Lebens. Ja, natürlich werde ich das tun. Ich habe zwar keine verdammte Ahnung, wie ich mich so lange auf den Beinen halten soll, wie ich meine Stimme so lange klar und deutlich benutzen kann. Aber ich werde es natürlich tun, einfach nur, weil es für Timi ist.

Nachdem ich das Pfarramt verlassen habe, wage ich mich in die Kirche. Aus Erzählungen habe ich erfahren, dass vor dem Altar ein Bild von Timi aufgestellt worden sei. Und eine Schüssel voll Sand, wo die Bewohner unseres mir ansonsten so negativ erscheinenden Ortes Kerzen anzünden könnten, um zu zeigen, dass wir nicht allein sind. Ich öffne die Tür, der kalte Geruch der Kirche strömt in meine Nase. Niemand sonst ist hier. Niemand außer mir. Dutzende Kerzen stecken im Sand und ich stehe vor ihnen. Nehme mir eine, zünde sie an, stecke sie dazu. Sehe mir, im Kerzenschein, minutenlang Timis Gesicht. Wie er da so fröhlich am Tisch sitzt, in der guten Vergangenheit. Und irgendwann breche ich (ich breche, wirklich) zusammen, falle schmerzhaft auf meine Knie, und weine. Weine von ganzem Herzen und aus tiefstem Schmerz und es wäre mir scheißegal, wenn sich jetzt plötzlich die Kirche füllen würde. Ich weine. Lasse alles heraus, wische mir die Tränen aus dem Gesicht, gehe zum Auto und fahre nach Hause.

Am Abend kommt sie schließlich, die Möglichkeit. Wir würden noch einmal seinen Körper sehen, aufgebahrt in der Leichenhalle, eingehüllt in ein Lammfell in diesem verdammt kleinen Sarg. Hier ist sie, diese eine, beklemmende Stimmung, die ich nie mehr in meinem Leben vergessen werde. Man fühlt sich fehl am Platz, man traut sich kaum, auf den Sarg zuzugehen, will nicht zusehen, wie andere es vor einem tun. Und dann geht man schließlich doch hin und zieht die Spieluhr ein weiteres Mal auf, greift ihm sanft über die Wangen, die weiß geschminkt alle Flecken überdecken versuchen. Ein Kuss auf die Stirn, schwarze Lippen. Und das Gefühl: das ist nicht Timi. Das ist eine Puppe. Das ist er nicht. Und in diesem Moment wurde mir die bittere Wahrheit bewusst: Ich hätte ihn nicht noch einmal sehen sollen. Ich hätte die Erinnerung behalten sollen, ich habe mir ein Teil des Schönen rauben lassen. Was bleibt ist das Bild des Sarges, die kalte Haut des Kindes, die Melodie der Spieluhr.

Wir lassen meine Schwester alleine, in der Leichenhalle. Sie solle entscheiden, wann sie den Sarg schließen möchte. Umarmungen, Abschiede, noch einmal in die Kirche. Und wieder dasselbe. Keine Kraft mehr in den Beinen, keine Kraft mehr in mir. Breche zusammen, neben meinen Eltern. Kann kein Wort sprechen, meine Eltern geben mir die Zeit, die ich brauche. Doch ich bemerke: Weinen ist etwas viel zu Persönliches. Alleine zu weinen ist besser. Aber ich wage es nicht alleine zu sein.

Am Abend fahre ich zu meinen Freunden, zu jedem Einzelnen, überreiche ihnen die Parte, rede und weine. Das ist wohl der tränenreichste Tag von allen. Ich rede und weine und fühle mich geborgen, auch wenn ich weiß, dass ich meine Freunde dadurch in eine beschissene Lage bringe. Mir zu helfen ist nicht möglich, einzig einfach nur da zu sein erscheint mir Hilfe genug. Ich genieße die Zeit außerhalb der kleinen kaputten, der unseren Welt.

Zuhause angekommen, im Bett, kralle ich meine Fingernägel in meine linke Schulter, schließe die Augen, spüre die heruntergeschabte Haut, die tief hinein gedrückten Wunden. Der ganze Schmerz durchfährt meinen Körper. Zufrieden schlafe ich ein.

Whipping boy.

Als ich meine Augen öffne, ist der eindeutig beschissenste Tag für Menschen wie uns, die gerade ihre schlimmste Zeit durchmachen müssen. Allerheiligen, wenige Tage, nachdem ein eineinhalb Jahre altes Kind die Augen für immer schließen musste, das passt ganz einfach nicht ins Konzept. Ein normaler Tag am Friedhof würde es wohl nicht werden.

Wir, meine Familie, wie so wohl nur in diesen wenigen kommenden Wochen bestehen würde, haben beschlossen, wieder einmal in die Leichenhalle zu sehen. Der Sarg wurde geschlossen, gestern, von meiner Schwester. Nachdem wir ihn alle noch einmal sehen konnten, ich ein letztes Mal seine Spieluhr aufzog und ihm einen Kuss auf den eiskalten, puppenartigen Kopf gab. Wir würden an keinem Grab stehen sondern unser Entsetzen in kleiner Gruppe teilen. Abschied nehmen in einer ungeahnten Härte. Der Schmerz. Dieser nicht enden wollende Schmerz. Das Vermissen.

Meine Mutter, die immer und immer wieder die kleinen Hosen und Shirts von Timi zusammenlegt. Immer und immer wieder, sie wieder auseinander reißt, und es noch einmal versucht und weint. Das Wetter passt zu unserem Leben, der Nebel setzt sich für lange Zeit fest, eisige Kälte, ein unaufhaltbarer Wind zieht vorbei und ich möchte mich fallen lassen, möchte mich vom Wind davon tragen lassen, möchte einfach nicht da sein. Dieser Schmerz lässt mich taub werden, und ich vergesse schon wieder auf mich selbst.

Jetzt ist wohl auch keine Zeit dafür, etwas auf sich zu achten. Ich werde gebraucht und auch wenn die Last wohl kaum vorstellbar ist, versuche ich sie gut zu meistern. Während meine Eltern und meine Schwester, meine Oma und irgendwie mein gesamtes Umfeld in eine Art Koma verfallen ist, treibe ich mich selbst immer wieder an. Lasse es nicht geschehen, dass etwas ungeschehen bleibt. Das bin ich nicht gewohnt von mir, und es war wohl auch noch nie, dass ich so sehr gebraucht wurde.

Immer und immer wieder lese ich mir meinen Text durch, den ich geschrieben habe. Diesen einen Text, den ich in zwei Tagen am Begräbnis vorlesen würde. Mein Herz pocht, in Gedanken an diesen Moment. Und ich zittere wieder. Zum weinen ist keine Zeit mehr und dann tippe ich auch noch die Fürbitten in den Computer. Wie würde es wohl sein, einem Menschen, dem wohl wichtigsten Menschen meines bisherigen Lebens, diese zwei A4-Seiten zu widmen, nur mit ihm zu reden und ihm vor versammelter Menschenmasse, die nun trauern oder nur Mitleid zeigen wollen, mein Herz ausschütte. Ich weiß es nicht, und ich kann es mir auch nicht einmal ausmalen, wie es denn wirklich werden würde.

Nachdem die Pseudofriedhofsbesucher abgezogen sind, irgendwann Richtung Abend, sind wir schon wieder dort. Beinahe fühle ich mich hier schon zuhause, wenn da nur nicht diese Leichenhalle, dieser Kindersarg und darin verschlossen ein lebloser Körper wäre. Wenn das alles nicht meine Familie betreffen würde, wenn das alles hier nicht unsere Welt wäre. Kerzen brennen, rund um den Sarg liegen Spielsachen verteilt, seine Spielsachen, mit denen er noch vor Tagen gespielt hat.

Irgendwann einmal bricht ein älterer Mann in die Idylle, in das gemeinsame Trauern, in diese unbequeme Leichenhalle, als er einen Blick hineinwirft, und lauthals sich darüber freut, dass er jetzt endlich wisse, von wem dieses Kind sei. Wir, einige von uns, haben ihn nach draußen gedrängt, haben die Tür geschlossen, und am Liebsten hätte ich ihm noch gerne eine verpasst. Er hat die Stille durchbrochen, hat keinen Anstand. Mein Herz pocht bis zum Anschlag, Wut steigt auf und ich bin froh, dass er das Weite sucht. Dieses Arschloch hat es kaputt gemacht, dieser Vollidiot ist in ein “Wir” gestürmt, das zurzeit eben nichts anderes verträgt.

Zuhause ist es still. Bei uns ist es üblicherweise selten still, aber seit Tagen passiert alles nur gedämpft. Auch die Übertragung der Schallwellen. Es ist das Atmen, das ich manchmal vernehme, das Schluchzen, wenige Worte. Aber keine Worte würden all dem, was jetzt gerade passiert, gerecht werden. Wir schweigen uns an, obwohl wir uns doch unterhalten, wir umarmen, wir rauchen, wir blicken mit feuchten Augen in die Ferne, den Wald, der hie und da durch den Nebel blitzt, verbringen die meiste Zeit am Balkon, wohl um eins mit der Kälte zu werden. Obwohl wir das schon sind.

Und wenn wir alleine sind, meine Eltern und ich, machen wir uns Gedanken um meine Schwester. Unterhalten uns, wie wir ihr jetzt helfen könnten und wie wir es in Zukunft tun können. Es entsteht der Entschluss in mir, meine ehemalige Psychologielehrerin anzuschreiben. Keine Ahnung, warum ich gleich an sie gedacht habe, aber ihr muss ich schreiben. Muss ihr erzählen, was uns passiert ist, muss sie fragen, ob meine Schwester zu ihr kommen könne. Sie würde schließlich nicht hingehen, dafür aber jemand anderer.

Auf all den vier Fensterbänken in meinem Zimmer habe ich Teelichter platziert. Ich weiß nicht mehr warum, vielleicht im Glauben, dass Timi es irgendwo sehen wird. Dass er weiß, dass wir ihn vermissen, und dass er hier ein verdammt großes Loch hinterlassen musste. Immer wenn ich zu Bett gehe, zünde ich sie an, lege mich unter den Tuchent, krümme mich zusammen, kralle mir meine Fingernägel in meine Schulter, denke nach. Immer nur nachdenken. Bis selbst das weh tut. Und irgendwann wird es schließlich Mitternacht. Und irgendwann schlafe ich schließlich ein.

Reason to mourn.

Jetzt ist es schließlich soweit. Keiner hält es mehr wirklich zuhause aus, will weg. Von den kleinen Fingerabdrücken, die Timi noch Tage zuvor auf dem Backrohr hinterlassen hat, von den unzähligen Kerzen, die beinahe schon altarartig um einige wenige Bilder aufgestellt wurden. Ich bin froh, als mein Vater mich fragt, ob wir gemeinsam durch halb Oberösterreich fahren. Parten austeilen, reden, weinen. Zu unseren Verwandten und unseren Freunden.

Auch meine Schwester sucht wieder den Kontakt. Hat Freunde um sich, sucht Nähe, Hilfe, will nicht mehr allein sein. Wir fahren zuerst nur wenige Kilometer, zu einem meiner Onkel, überreichen die Parte, reden, weinen. Ich bin meistens der ruhende Pol in dem Ganzen, füge Worte hinzu, wo sie meinem Vater manchmal ganz einfach fehlen. Kann die vergangenen Tage minutengenau beschreiben, weiß, wann was passierte. Und natürlich auch, wann was passieren wird. Wir bitten ihn, seinen Sohn, einen anderen Onkel und dessen Sohn, gemeinsam Timis Sarg von der Kirche bis zum Friedhof zu tragen. Natürlich lehnen sie nicht ab. Und vielleicht wissen wir selbst auch gar nicht, was wir hier von ihnen verlangen. Ein Kind zu Grabe tragen ist, selbst wenn es nicht das Eigene ist, eine Folter. Eine Folter der ganz besonderen, psychisch und physisch furchtbar belastenden Sorte.

Schließlich geht es hoch in den Norden Österreichs, zu einer Tante, einem Onkel und meiner Großmutter väterlicherseits. Einige Male muss meine Tante ihr erklären, was mit Timi passiert ist, immer wieder ist sie erschrocken und scheint doch nicht zu verstehen. Minuten später hat sie es schon wieder vergessen und fragt, wie es meiner Schwester mit ihrem Kind gehe. Nach einigen Versuchen geben wir auf. “Es geht ihm gut.” Und hoffen es und halten es beinahe nicht mehr aus. ‘Es geht ihm gut.’ hallt es noch einige Zeit in meinem Kopf nach, die Gespräche während der stundenlangen Autofahrten beschränken sich auf einige wenige Worte, manchmal hören wir Georg Danzer, manchmal keinen Radio. Denken nicht daran, was kommen wird und wollen vergessen, was zuhause gerade abläuft. Bei seinen Freunden, die er normalerweise jede Woche sieht, kann er nur weinend die Hände vors Gesicht halten, während sie ihm eine Umarmung schenken, und mir, dem nicht weinenden Sohn einen Schulterklopfer und eine Beileidsbekundung erbringen.

Im Laufe des Tages, am Vormittag und auch am Abend war ich drei oder vier Mal wieder in der Kirche. Habe gewartet, bis sie leer war, bevor ich mich reinsetzte. Habe versucht, leiser zu atmen, habe minutenlang die weißen Wände der Kirche betrachtet. Das Bild Timis, die unzähligen Kerzen, die zu seinem Ehren angezündet worden sind. Und auch wenn Gott ein Arschloch ist, sollte er überhaupt existieren, die Kirche, der Ort, diese Stille. Sie bringt den nötigen Rhythmus rein, sie gibt mir Halt, einen Zufluchtsort. Sie zeigt mir, wie es ist, ohne Sorgen zu sein. Ohne dem Druck, den ich mir selbst auferlegt habe, in dieser einen Situation, der schwersten in meinem bisherigen Leben, zu funktionieren. In der Kirche muss ich nicht funktionieren, kann meinen Tränen freien Lauf lassen, kann auch mal ganz einfach zusammenbrechen, wie man es eigentlich nur aus Telenovelas kennt. Hier ist der Platz meiner Trauer, und hier soll er auch bleiben.

Und manchmal bin ich anschließend auch zur Leichenhalle gefahren, habe die große Türe verschoben und mich kurz reingestellt. Mir immer wieder das Bild und die Parte, den Sarg und die unzähligen Spielsachen angesehen. Habe mich darüber geärgert, dass die Kerzen hier elektronisch sind und dem Ganzen irgendwie das Flair nehmen. Diese Momente werfen mich immer wieder zurück zu diesem einen Tag, an dem wir seinen Leichnam noch einmal sehen durften. Das Bild läuft dauernd vor meinem geistigen Auge ab. Seine blasse Haut, die überschminkten, aber sichtbaren schwarzen Flecken in seinem Gesicht, die Haut, die sich wie mattes Porzellan anfühlte. Sobald irgendjemand anderer bei der Tür hereinblickt, gebe ich der Person die Hand, erhalte Beileid oder spende es selbst und haue ab. Will einfach nur weg hier von dem Platz, halte es nicht aus, wenige Meter entfernt vom toten Körper meines Neffen zu stehen.

Am Abend fahren meine Mutter und ich gemeinsam zu meiner Großmutter. Jene, die nur wenige Kilometer entfernt wohnt und welche als eine der Ersten davon erfahren hat. Immer noch hat sie ihr baumwollenes Taschentuch in Griffweite liegen, fragt nach dem Warum und wischt sich Tränen aus den Augen. Abwechslung bietet mein Cousin und seine Frau. Und auch Sebastian, deren Sohn, der es, nachdem er seine ersten kindlichen Ängste vor dem bärtigen, haarigen Brillending ablegte, mich als Spielkumpanen ins Herz geschlossen hat. Ein Jahr, bevor Timi das Licht der Welt erblickte, stieß Sebastian in unser aller Leben. Und auch heute, obwohl er scheinbar die verspannte Situation erkannte, fordert er mich auf, mit ihm zu spielen.

Eigentlich will ich nicht. Will nicht wieder Kinderspielsachen in die Hand nehmen und will nicht irgendetwas Lustiges spielen, weil die Welt ganz einfach nicht lustig ist. Aber ich ringe mich dazu durch, setze mich zu ihm auf den Boden, räume seine Spielebox aus. Und auch er weiß damit richtig umzugehen. Schenkt mir ein Lächeln nach dem anderen, lacht über meine bemühten Witze, schmiegt sich an mich. Auch wenn es wohl das melancholischste Spielen aller Zeiten war, hat es mir doch so einiges gebracht.


Morgen wird Timis Begräbnis sein. Viele Menschen werden kommen. Im Grunde genommen habe ich nicht daran gedacht, obwohl ich keine Chance hatte, darauf zu vergessen. Mein Text ist gedruckt, meine Fürbitten ebenso, der Ablauf bekannt, die CD gebrannt. Xavier Naidoo wird singen, und auch Eric Clapton kommt vorbei, Herbert Grönemeyer singt über den “Weg”. Alles ist bereit. Außer mir. Der Anzug, das Hemd, die neue schwarze Krawatte hängen bereitwillig in meinem Zimmer, die Kerzen sind schon wieder angezündet. Gute Nacht, Timi. Ich muss schlafen, ich denk an dich und hoffe, dass du morgen stolz auf mich bist.

Walk away.

Als ich aufwache, weiß ich, was heute passieren wird. Sechs Tage sind vergangen, seit ich diesen einen Anruf von meiner Mutter in der Zivildienststelle erhalten habe. Sechs lange Tage, in denen ich manches Mal über mich selbst hinausgewachsen bin, und doch wieder jene Momente hatte, die mir zeigten, dass ich eben auch nur ein Mensch bin. Heute wäre der große Tag, das Begräbnis. Eine Kirche voll mit Leuten, bis auf den Rand alles besetzt. Ich habe nicht gut geschlafen. Wie hätte ich auch. Mehrmals bin ich heute Nacht aufgewacht. Irgendwann bin ich dann doch aufgestanden, habe sogar gefrühstückt. Wie ich es jedes Wochenende mache. Nur diesmal ist das ein anderer Samstag. Ein komplett anderer Samstag.

Irgendwann dusche ich mich, und ziehe diesmal nicht den beinahe schon ausgeleierten schwarzen Pulli an, sondern meinen Anzug. Gleich würde es soweit sein, aber hier, in diesem Haus, mit einer hektisch herumlaufenden Mutter, und einem Vater, der die letzten Tage schon in Trance verbracht hat. Ich muss hier raus, und fahre zu Timis Eltern. Irgendwann stehen wir vor der Kirche, sehen den Strom, der unentwegt in das große Gebäude im Ortszentrum hineinzieht. Manche bemerken mich, kommen her. Auch meine beste Freundin und ihre Schwester, die selbst in Tränen ausbrechen, während sie mich umarmen. Ich weine nicht. Meine Familie und ich gehen erst in die Kirche, als der Strom vorbei ist. Hinten stehen schon die Leute, die Plätze sind gefüllt, auf der rechten Seite sehe ich noch eine Reihe mit Freunden. Ansonsten sehe ich nichts. Setze mich neben meine Eltern, auf den linken Rand der linken Sitzreihen. Die zusammengefalteten Zettel in meiner Sakkotasche krame ich immer wieder hervor, nur um sicher zu gehen, nichts vergessen zu haben. Manchmal reiche ich meinen Eltern oder meiner Schwester Taschentücher aus meiner anderen Sakkotasche. Aber ich weine nicht. Ich zittere nur, wie ich es schon immer getan habe. Zittere leise vor mich hin und glaube, zusammenbrechen zu müssen.

Gerhard, unser Freund und Pfarrassistent, hat berührende und sehr persönliche Worte gefunden, irgendwann kommen die Fürbitten, die ich mit fester Stimme vortrage. Es ist so unruhig still hier. Später teilen noch die Arbeitskollegen meiner Mutter an alle Besucher des Begräbnisses Buttons aus. Buttons mit einem Schmetterling; nicht als Erinnerung an diesen Tag hier, sondern in Erinnerung an diesen kleinen Jungen. Dann die Worte von Timis Taufpatin und schließlich mein Text. Jenen Text, den ich nur einen Tag nach Timis Tod geschrieben habe. Jenen Text, um den mich meine Schwester und meine Mutter gebeten haben. Zitternd gehe ich die wenigen Treppen hinauf zu jenem Platz, wo normalerweise immer die Lesung vorgetragen wird. Hinter mir ist es still, niemand hustet, vereinzeltes Schluchzen

.

“Jetzt stehe ich hier, versuche Worte für meinen Timi zu finden, und weiß einfach nicht, wie.”

Beginne ich und bin einfach nur froh, es doch zu wissen. Zwei A4-Zettel voll Worte, die ich nicht an die Gäste hier richtete. Ich blicke blind in die Menschenmasse, kann keine Gesichter entdecken, und richte viel öfter die Worte an den Sarg, der nur etwas neben mir steht.

“(…) Stundenlang hätte ich deinen schlafenden Körper betrachten können, wie du da, völlig zufrieden mit der Welt, in deine Traumwelt versankst. (…)”

Manchmal habe ich das auch getan. Habe versucht, ihm den “kleinen Prinzen” vorzulesen, bis ich bemerkte, dass er davon zwar vieles, aber eindeutig nicht müde wurde. Und ich ihn dann am Kopf streichelte, bis er neben mir, im Bett seiner Großeltern, eingeschlafen ist. Manchmal habe ich das auch getan und würde es so gerne wieder tun.

“(…) Und mit einem Schlag bist du weg. Und hinterlässt auf dieser Seite des Lebens ein so tiefes Loch. (…)”

Das sind wohl die treffendsten Worte. Es war ein Flügelschlag und du warst nicht mehr da. Hast dich aus dem Staub gemacht, ohne auch nur einmal Lebewohl zu sagen. Hast mich, uns, hier zurückgelassen und einfach so aufgehört zu atmen. Wie konntest du nur?

“(…) Und nun an dich, lieber Timi. Du warst der größte Engel auf Erden. Mach dich nun auf den Weg in den Himmel. Damit du deinen Sonnenschein auch dort verbreiten kannst. Ich liebe dich und vermisse dich so sehr.”

Beim letzten Satz, mit Blick auf den Sarg, versagt beinahe meine Stimme, sie wird etwas weinerlich. Beende den Satz und ernte wieder Stille. Nur das Schluchzen meiner Schwester und jenes erbitterte meiner Mutter. Auf dem Weg zurück blicke ich in ihre Gesichter, kann nicht lange hinsehen, mein Vater, mit verheultem Gesicht, klopft mir auf den Oberschenkel. “Gut gemacht.” Ich höre mir “Tears in Heaven” an, ein Lied, über den Tod eines Kindes, am Begräbnis eines eben solchen. “Would you know my name, if I saw you in heaven?” Innerlich muss ich lachen. Weil ich mich erinnere, wie ich ihm immer wieder vorsagte, wie sein Name war, und wie der meine lautete. Sagen konnte er ihn jedoch nie. Würde er denn meinen Namen kennen?

Irgendwie hat es sich so ergeben, dass ich die Aufgabe bekomme, das Holzkreuz, jenes, was für die kommenden Monate unser Familiengrab schmücken würde, zu tragen. Während hinter uns der Trauerzug aus dem familiären Umfeld zum Friedhof geht. Ich halte es vor mir, halte es etwas hoch. Der daran festgemachte Teddy, die mit Draht befestigten Schmetterlinge. Mir läuft Gänsehaut über den Rücken, als sich die gesammelte Kirche erhebt, als, ich mit dem Kreuz voran, meine Onkels und Cousins mit Timis Sarg dahinter, langsamen Schrittes die Kirche verlassen. Ich erkenne keine Gesichter, erkenne niemanden, und lebe die kommenden Minuten weiter in meiner ganz eigenen Welt.

Better way.

Auch hier draußen bekomme ich nicht viel mit. Irgendwann pendelt sich auch das Tempo zwischen den Sargträgern und mir, dem Kreuzträger, ein. Wir gehen den Weg entlang, vorbei am Supermarkt, der Bank, vorbei an der Durchzugsstraße unseres Dorfes, welches von der Feuerwehr kurzzeitig abgesperrt wurde. Und, als wolle irgendwer uns noch ein Schnippchen schlagen, bleiben wir schließlich vor den sich schließenden Bahnschranken stehen. Niemand redet miteinander, wir hören ihn herannahen, ich versuche zu erraten, aus welcher Richtung er kommt. Die Schranken öffnen sich. Jetzt sind es nur noch wenige Meter bis zum Friedhof.

Unter uns sind Familienmitglieder, die von Timi so wenig wie möglich mitbekommen haben. Cousinen, die ihn ein oder zwei Mal gesehen haben, oder Großväter, die sich nur bedingt für Sohn und Enkelsohn interessierten. Es sind die falschen Leute hier, denke ich mir, als ich das Kreuz ans Grab lehne und mich umsehe. Mein Blickfeld wird wieder größer, ich sehe den Nebel in der Ferne, spüre die Kälte. Irgendwann ist all der Fokus auf meine Schwester gerichtet. Sie hat die Aufgabe – zu welcher Zeit auch immer – den angebundenen Luftballon in Herzform vom Sarg zu lösen. Unter den Klängen von Bruce Springsteens “Streets of Philadelphia”, welches sich in diesem Tag von einem der schönsten, zu einem der furchbarsten Lieder entwickelt. Eine Cousine durchbricht schon wieder den nötigen Abstand, dringt zu meiner Schwester durch, steht heulend neben ihr. Sie weiß wenigstens, was sie tut, lässt die Cousine links liegen, bis diese selbst bemerkt, dass sie fehl am Platz ist. Heute gibt es nur eine, die ihr Kind verabschiedet. Und diese Möglichkeit gehört ganz ihr allein.

Der Luftballon steigt hoch, und, das überrascht uns alle, ist trotz des Wetters noch lange Zeit zu sehen. Gerhard kommt auf uns zu, meint zu mir “Er fliegt Richtung Osten. Osten bedeutet Hoffnung.” Hoffnung worauf? Dass Timi morgen wieder quietschlebendig hereinspaziert und unser Leben auf den Kopf stellt? Hoffnung darauf, dass wir schnell vergessen können? Hoffnung darauf, dass das alles irgenwann ein Ende nimmt? Mir fehlt jeder Glaube an Hoffnung in diesem Moment.

Langsam wird der Sarg runtergelassen, langsam verschwindet Timis Körper in diesem Loch. Die Menschen werfen Rosenblätter nach, und Spielsachen. Wir wollen ihn nicht unter Erde begraben, sondern mit bunten Blättern bedecken. Ich bin unter den Letzten, will mich ja nicht aufdrängen, nehme mir Zeit. “Auf Wiedersehen, Timi.” Und suche mir anschließend eine kleine Mauer, einen stillen Ort und weine. Weine zum ersten Mal seit Tagen. Nicht viel, nur wenige Tränen, meine Eltern und Gerhard, unser Pfarrassistent, kommen auf mich zu. Bemerken schnell, dass ich gerade niemanden brauche und schließlich doch jeden. Meine Mutter umarmt mich, mein Vater und Gerhard meinen noch einmal: “Hast du gut gemacht.” und “Lass es raus.” Hier ist sie, die Trauer. Hier ist es, das Ende einer furchtbaren Woche, der Beginn eines neuen Lebensabschnittes. Das Begräbnis ist Geschichte, hat funktioniert. Ich habe funktioniert. Aber das brauche ich jetzt nicht mehr.

Meine Schwester bittet, mit einigen Freunden nach Hause fahren zu können, um zu reden, um zusammen zu sein. Deshalb fahren meine Eltern und ich zu meinem Onkel und meiner Tante, die für die Verwandtschaft, die von weiter her kommt, vorgesorgt hat. Trinken Bier, Wein, Wasser, reden über Timi, über das Begräbnis, ich bekomme Lob. Immer wieder die Worte: „Du hast das gut gemacht“, „Einen besseren Bruder kann man sich nicht wünschen“, „Wir sind stolz auf dich“. Hohle Phrasen. Ich habe es nicht deshalb getan und würde mich dafür hassen, wenn das der Grund gewesen wäre. Ich habe es für Timi gemacht, für meine Schwester, meine Mutter. Dass der Text andere berührt, ist okay. War aber nicht Voraussetzung. Ich habe das getan, was in meiner Macht stand, habe mich etwas übernommen, aber das passt schon so. Die Stimmung im wenige Kilometer von zuhause entfernten Haus meiner Verwandten ist überraschend lebendig. Zwar wird immer mal wieder über all das geredet, aber es scheint, als habe das Begräbnis auch meinen Eltern einen Punkt ermöglicht. Vorerst zumindest.

Stunden später kommen wir nach Hause. Sitzen noch gemeinsam im Wohnzimmer, sehen fern, manchmal gehe ich eine rauchen. Irgendwann kommt eine Freundin meiner Schwester von ihrem Zimmer herunter, erzählt die Geschichte. Dass meine Schwester etwas trinken wollte, den Schmerz sozusagen mit Alkohol betäuben, und irgendso ein bescheuerter assozialer Mistkerl jetzt ernsthaft versucht, meine Schwester am Tag des Begräbnisses ihres Sohnes anzumachen. Ich, von Grund auf nicht der mutigste Typ, erzähle auch meinen Eltern davon, und wage schließlich doch den Weg hinauf. Bitte ihn heraus, erkläre ihn für vollkommen gestört und bitte ihn zu gehen. Mehrfach, bis er es schließlich einsieht. Das musste nicht sein und das hätte auch nicht so sein sollen. Aber kann man hier irgendjemandem, außer diesem Arschloch, einen Vorwurf machen?

Während die Welt schon wieder die Rückkehr zur Routine fordert und nur mehr der kommende Sonntag vor den Banalitäten des Alltags schützt. Während rundherum die Welt zusammenbricht, ein Kind zu Grabe getragen wurde, ein Luftballon gelöst. Während man stets versucht Haltung zu wahren und jetzt an einem Punkt angekommen ist, wo es einfach nicht mehr geht. Hier kann man niemanden einen Vorwurf machen. Nicht heute, nicht jetzt. Wohl nie.

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