„Es ist ja so“, beginnt Peter, „Du hast mich heute entführt, oder nein … ich habe mich bereitwillig von dir entführen lassen. Die Entführung aus dem ‚Okay‘, in dem ich gefangen war. Die Wahrheit ist: Ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin.“ Immer wieder blickt er zu Hannah, die es sich am Beifahrersitz gemütlich gemacht hat, ihre Beine am Amaturenbrett ausrastet und den Kopf in seine Richtung gelegt hat. „Das klingt jetzt vielleicht komisch, aber ich glaube, nach diese Nacht weiß ich endlich wieder einmal, wie sich das Leben anfühlt. Das Leben, mal abseits der gewohnten Pfade. Das Leben, mit dir an meiner Seite.“
Er ist müde, und Hannah geht es ähnlich. Sie haben die ganze Nacht lang kein Auge zu getan, außer in den Momenten, in denen sie sich küssten. Wobei das auch nicht ganz stimmt, denn Peter hat immer mal wieder die Augen kurz geöffnet, um herauszufinden, ob er sich all das nicht auch nur einbildet. „Ich kann auch mal wieder ans Steuer“, sagt Hannah, nachdem Peter zum großen Gähnen ausgeholt hat. „Ach nein, meine Liebe. Es ist ja nicht mehr weit.“ Unwissend über ihren genauen Aufenthaltsort haben sie sich so lange nach vorne getastet, bis sie wieder in Ortschaften gelangten, die ihnen zumindest ansatzweise geläufig waren. Den Weg zurück auf die Autobahn haben sie erst gar nicht mehr gesucht.
Als Peter an einer leeren, aber recht unübersichtlichen Kreuzung hält, um sich zu versichern, das er keinem den Vorrang nimmt, öffnet sich Hannahs Tür. Und als er sich zu ihr umdreht, hat sie auch schon das Auto verlassen und läuft an paar Meter hinein in das Weizenfeld. „Hannah?“, hört er sich noch rufen, als er die Warnblinkanlage einstellt und selbst aussteigt. Plötzlich bleibt sie stehen, blickt über den Waldstreifen hinweg, der hinter dem Feld beginnt. Dort reckt sich die Sonne mit aller Kraft. „Können wir nicht einfach weiterfahren?“, fragt Hannah ganz leise, als Peter schließlich neben ihr zum Stehen kommt.
Wie gerne würde er es wollen. Wie gerne würde er diese eine Nacht als Dauerschleife erleben. Mit all ihren aufregenden Eindrücken, Ereignissen, Überraschungen. So fühlt sich das Leben an, so wie er gesagt hat. Aber in Wahrheit ist das nicht das richtige Leben. Es ist ein Ideal, es ist etwas, nachdem man streben kann, aber es ist nicht weniger Leben, wenn man es einmal nicht schafft. „Man kann nicht vor dem echten Leben flüchten“, fasst er seine Gedanken für sich zusammen. „Diese Nacht hier war wunderschön, aber sie ist nicht real. Verstehst du? Das ist es nicht. Wir dürfen uns nicht an dieser einen Nacht messen. Sie ist der Beginn von etwas Besonderem, das spüre ich. Aber sie darf nicht Grundlage sein, auf der alles aufbaut. Denn sonst können wir nur scheitern.“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich will nicht scheitern, ich will nicht, dass wir scheitern. Wir können das, oder? Wir scheitern nicht, oder, Peter?“ Er nimmt sie in den Arm. „Wir scheitern nicht, nein. Vielleicht fallen wir, vielleicht du, vielleicht ich oder manchmal vielleicht auch wir beide. Aber dann helfen wir uns auf. Wir lassen uns nicht so weit unterkriegen, wir halten durch.“
Die Sonne kitzelt ihre beiden Gesichter, als sie noch für einen kurzen Moment dort stehen bleiben und zum ersten Mal gemeinsam den Morgen erfahren. „Komm.“ Hand in Hand gehen sie den Weg zurück zum blinkenden Auto, lassen das Weizenfeld, lassen den Waldstreifen hinter sich und behalten einzig und allein nur die Sonne.
Auf den kommenden Metern kommen ihnen nun bereits wieder die ersten Autofahrer entgegen. Die beruflichen Frühstarter, die meist nicht sehr aufmerksam und freundlich über das Lenkrad lugen. Wer kann es ihnen verübeln. „Wir dürfen uns nicht in diesem Traum, in dem Traum dieser einen Nacht, verlieren.“, sagt Peter und weiß dabei selbst, dass er noch lange von seinen Erlebnissen der letzten paar Stunden zehren wird. Hannah nickt. „Aber es war ein Traum, nicht wahr.“ – „Mhm.“
Die Heimat der beiden rückt immer näher. Sie machen sich keine Gedanken, wie sie den morgen verbringen werden, ob Hannah noch mit zu ihm kommt, oder er das Auto direkt vor dem Haus ihrer Eltern parkt. So endet dieser Traum nicht, denn zuerst müssen die beiden erst einmal zurück in das richtige Leben. Zuerst müssen sie auftauchen, aus diesem Meer der Erfahrungen und wieder neue sammeln. Müssen aufwachen, müssen zu träumen aufhören. Die Ortseinfahrt, das altbekannte Schild, dass ihre baldige Ankunft noch realer macht.
Der Nebel hat sich seit dem Auftauchen der Sonne rasch verflüchtigt. Und mit seinem Verschwinden pocht auch das Herz dieser Welt wieder stärker. Menschen holen in Pyjamas die Zeitungen aus ihren Briefkästen, jemand schüttelt die Bettdecke über dem Balkon aus und auch die Müllabfuhr dreht bereits wieder ihre Runden. „Es ist nicht mehr weit.“, sagt Hannah und die beiden versinken wieder zurück in das melancholische Schweigen, was sie immer stärker einzunehmen droht.
Das Auto kommt zum Stillstand und beide wissen, was nun folgen muss und wollen es doch nicht wahrhaben. Peter greift nach Hannahs Hand. „Danke … für Alles.“ Sie küsst ihn. „Und weißt du was? Wir können nicht in diesem Traum hier bleiben, aber wir können versuchen, ihn wieder einmal zu wiederholen. Wenn wir es für nötig halten, wenn wir kein verdammtes Ziel vor Augen haben und wenn uns auch mal wieder die Ängste übermannen. Es gibt noch so viele Orte, die wir heut Nacht nur gestreift haben. Wir können neue Träume schaffen, weißt du.“
„Und woher weißt du das, Peter? Wie kannst du dir dabei so sicher sein?“ Er schmunzet, als er langsam den Gurt löst. „Um ehrlich zu sein: Ich weiß es nicht. Ich hoffe es, ich wünsche es mir, aber wie könnte ich es wissen? Wie könnte ich die Zukunft vorhersehen, wie könnte ich mir sicher sein. Aber ich glaube an uns und an das, was uns verbindet. Ich glaube, dass wir, dank heute, so unglaublich vieles schaffen können und das macht mich zuversichtlich.“ – „Reicht das, um den Zauber am Leben zu erhalten?“ – „Wenn das nicht reicht, liebe Hannah, dann weiß ich wirklich nicht, was es dafür bräuchte. Guten Nacht, Hannah.“ Ein Kuss. Ein Lächeln. „Du meinst wohl eher: Guten Morgen.“ Und als Peter aus dem Wagen steigt, rutscht Hannah ohne auszusteigen auf den Fahrersitz, startet das Auto wieder an, schaltet in den Rückwärtsgang und fährt dann schließlich nach Hause. Peter bleibt noch stehen, atmet ein, atmet aus. Zum Erwachen aus dem Traum ist es noch viel zu früh.
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