Herr Leitner versagt als Weltenbummler

Ich habe noch nicht viel von dieser Welt gesehen. Genauer genommen habe ich noch kein einziges Mal den Kontinent verlassen. Das hat einerseits mit dem fehlenden Fernweh und andererseits schließlich auch mit dem (immer noch) fehlenden Geld zu tun. Aber kurz vor meinem zwanzigsten Geburtstag wollte ich es endlich wissen: Aufgrund meiner gerade erst absolvierten neun Monate Zivildienst war ich noch für wenige Tage oder Wochen im Besitz einer Bahnkarte, die mir kostenloses Reisen durch ganz Österreich ermöglichte. Und da mich nichts und niemand halten konnte, entschloss ich mich, innerhalb von zwei Tagen sieben Hauptstädte Österreichs zu bereisen.

Mit nur wenig Gepäck (eine Umhängetasche mit einem Wechsel-Shirt und einer Wechsel-Unterhose sowie einem Notizbuch, Kugelschreibern, mein mp3-Player, mein Handy und etwas Jause) konnte es also losgehen. Der Plan war eigentlich großartig durchdacht: Zuerst mache ich mich auf den Weg in den Westen (Salzburg -> Innsbruck -> Bregenz -> Innsbruck), um dann am nächsten Tag den Osten zu „erfahren“ (Klagenfurt, Graz, St. Pölten, Linz). Ob es ich es nach Eisenstadt schaffen würde, war noch unklar, weil offenbar kein Zug auch nur ansatzweise in diese Richtung fährt, und Wien musste mich das darauffolgende Wochenende sowieso ertragen. Wo ich schlafen würde? Das überließ ich meinem Glück. Selten war ich so mutig vor dem Antritt einer Reise.

Salzburg

Der erste Ausstieg, nachdem ich in den Zug in Attnang-Puchheim gestiegen bin, war also Salzburg. Einige Freundinnen von mir studierten bereits dort, aber ich hatte für Menschen in diesen zwei Tagen keine Zeit. Diese 48 Stunden sollten voll und ganz mir und all meinen Eindrücken gehören. Was ich bei meiner Planung aber nicht bedachte war, dass auch ich selbst nur wenig Zeit für all die Städte haben würde. Die halbe Stunde, die mir blieb, um Salzburg zu erleben, nutzte ich für einen kurzen Spaziergang an der Salzach, inklusive einem Kaffee zum Mitnehmen. Eine schöne Stadt, ganz klar, aber es wartete doch noch so vieles mehr auf mich. Innsbruck zum Beispiel.

Die Fahrt über das „große deutsche Eck“ und durch die ersten Tiroler Täler war wunderschön. Und ich lebte mich im Zug ein. Unzählige Stunden würde ich in den kommenden Tagen darin verbringen. Und so las ich Zeitung, machte mir Gedanken, schrieb mit der Hand Texte für meinen Blog auf Papier. Das regelmäßige Rattern des Zuges ist etwas so Melancholisches und so konnte ich mir auch Gedanken machen über die Dinge, die ich erst kurz davor von meiner Mutter erfahren habe. Dass der Krebs offenbar in beiden Seiten der Verwandtschaft wuchere. Das nimmt einen mit, egal ob man noch ein Kind ist, oder schon fast zwanzig, was in Wahrheit nichts daran ändert, dass man eigentlich immer noch ein Kind ist. Und während draußen die Sonne freudig über die Alpen strahlte, genoss ich ein Kipferl im Bordrestaurant, hörte (wie so oft damals) Kettcar oder Coldplay und dachte nach und schrieb. Bis schließlich Innsbruck als nächster Halt verlautbart wurde. Und ich – nach einem Besuch beim Infostand – erfuhr, dass mir jetzt gerade einmal fünfzehn Minuten bleiben würden, bis mich der nächste Zug nach Bregenz bringen würde. Und nachdem ich ja vorhatte, von dort noch einmal zurück nach Innsbruck oder gar nach Klagenfurt zu fahren – wohlgemerkt: alles am ersten Tag – wollte ich natürlich keine Zeit verlieren. Und so sah ich von der interessant wirkenden Stadt einzig und allein den Bahnhof sowie für einen kurzen Moment den Bahnhofsvorplatz.

Innsbruck

Als ich den Zug nach Bregenz stieg, kamen mir die ersten Bedenken: Was, wenn ich keinen Platz zum Schlafen finden würde? Was braucht man, um ein Bett in einer Jugendherberge zu bekommen? Hätte ich mir vielleicht vorher etwas suchen sollen? Und wie viel kostet das Ganze? In Bregenz aber hatte ich dann schließlich genug Zeit und ging durch wunderbare Alleen, immer auf der Suche nach dem großen, länderverbindenden Bodensee, den man – genauso wie das Meer, da bin ich mir heute sicher – mindestens einmal im Leben sehen sollte. Das Blöde daran war: Da ich bisher die zwei zuvor bereisten Destinationen eher im schnellen Gehschritt, wenn nicht sogar im Laufschritt unterwegs war und ich in Bregenz viele Meter zurückgelegt hatte, hatte ich mir sozusagen einen „Wolf“ gelaufen. Das heißt, dass meine Oberschenkelinnenseiten vom Stoff der Unterhose und der Jeans etwas wund geworden sind. Und wer das schon einmal hatte, weiß, was für ein schmerzhaftes Gefühl das ist.

Bregenz

Um mich so richtig zu stärken, nachdem meine Jause schon längst aufgebraucht war, entschloss ich mich, in einem kleinen Gasthaus am See ein Schnitzel zu essen. Und seit diesem Mahl weiß ich, wie man hochpreisig mittelmäßig speist. Aber der Hunger ging eben nunmal vor. Doch eines war ab dem Zeitpunkt gewiss: Es würde keinen zweiten Tag geben. Klagenfurt, Graz und St. Pölten würden auf mich warten müssen. Eisenstadt sowieso. Der Mut war verflogen und natürlich würde ich nicht am Bodensee schlafen können. Ich musste zurück. Wie auch immer. Und so schleppte ich mich, mit meinen geschundenen Oberschenkeln, zurück zum Bahnhof um dann zum ersten Mal in meinem Leben mit einem ICE zu fahren.

Ich denke noch heute oft an diese mutigen zwei Tage zurück, die in Wahrheit nur ein stressiger einzelner Tag wurde. Den zweiten Teil meiner österreichischen Weltreise habe ich nie nachgeholt, und ich hatte zuvor und habe auch danach kein größeres Fernweh, viel eher ein stärkeres Heimweh. Selbst damals, als der Begriff „Heimat“ und der damit verbundene Ort seine Auflösung bereits eingeleitet hatte. Was damals aber eindeutig entstanden ist: Meine Liebe für Zugfahrten. Fürs Nachdenken, beim regelmäßigen Rattern, für Den-Kopf-an-die-riesige-Zugwand-lehnen-und-die-Welt-draußen-vorbeiziehen-lassen. Und meine Liebe für so ganz persönliche Momente, die ich eben manchmal wirklich nur für mich brauche.

Was ich durch meine Weltenbummelei gelernt habe? Dass mans ich nicht zu viel an einem Tag vornehmen darf. Weil man auch genießen und bestaunen muss. Das gehört dazu. Das macht solche Ausflüge so wertvoll. Und man sollte auch alles so planen, dass man selbst für einen „Wolf“ gewappnet ist. Durchs Leben zu schreiten ist kein Nachteil, sondern sollte eigentlich zur Lebensaufgabe gemacht werden. Denn die Welt soll man nicht im Laufschritt, sondern recht gemütlich kennen lernen. Nur so macht es Sinn und nur so macht es auch wirklich Spaß.

Ende

Klagenfurt habe ich bis heute noch nicht gesehen, St. Pölten musste bis 2009 auf mich warten, Graz gar bis 2011. Und auch Eisenstadt steht noch immer auf meiner Bucket List. Fährt da jetzt eigentlich schon ein Zug hin?

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