Die U-Bahn fährt ab. Ich höre sie noch, das Piepsen, als sie die Türe schließt, das Anfahren, das Ausfahren, die Stille danach. Und mein Atmen. Ich bin die Treppen hochgerannt, weil wir doch. Abgemacht haben wir es und ich. Bin doch nur um zwei Minuten zu spät losgefahren, wurde aufgehalten, habe es verpasst. Und ich habe sie nicht mehr gesehen, habe ihr nicht mehr Bescheid geben können. Ich setze mich auf die Bank. Die gleiche Bank wie damals, als ich sie das erste Mal ansprach.
„Du musst pünktlich sein.“, sagt sie und lächelt mich an. Sie hat es bisher immer rechtzeitig geschafft, ich war der, der sie manchmal etwas warten ließ. Aber ich habe es mir fest vorgenommen, diesmal früh genug wegzugehen. Denn zum ersten Mal würden wir uns außerhalb dieser dunklen Höhle, dieser U-Bahnstation treffen, die für uns beide zu einem zweiten Zuhause wurde. Für die fünfzehn Minuten pro Tag, die wir uns Zeit nehmen. Zwischen den Runden, die wir und die U-Bahn und die Welt drehen. Mal eine kurze Pause, eine Bank, sie und ich.
Sie sah traurig aus, damals, als ich den Mut hatte, sie anzusprechen, als hätte sie gerade geweint, als würde sie gerade jemanden brauchen. Ein „Ist alles okay?“ und ein Kopfschütteln später saß ich schon neben ihr und sie erzählte. Im Nachhinein sagt sie immer, es sei ihr peinlich, dass wir uns so kennengelernt haben. Ich sage dann immer: Wenn nicht so, hätten wir uns wahrscheinlich nie kennengelernt, Und dann lächelt sie immer und es ist ihr dann gar nicht mehr so peinlich, glaub ich.
Ihr Freund ist ein Arschloch, war es schon immer und sie weiß nicht. Ich würde ihn gern zur Rede stellen, würde ihm klar machen, dass er sie nicht verdient hat, und dass er gefälligst verschwinden soll, seine Sachen packen, und einfach weg sein soll. Aber so weit ist es nie gekommen, weil wir uns eben nur die gemeinsame Bank teilen, bevor wir dann wieder in verschiedene Richtung weiterfahren. Zurück in ihr Leben und in meines, zurück in meine Wohnung und die ihre. Wir hielten uns auf Distanz, wohl aus Selbstschutz, wohl aus Angst. Und doch erzählen wir uns alles, sind uns näher als jeder, der jemals auf dieser Bank gesessen hat.
„Fährst du bitte mal mit?“, fragt sie mich und ich nicke. Sie lädt mich ein, mit ihr gemeinsam in dieselbe Richtung zu fahren, sie öffnet die Tür zu sich ein kleines bisschen, öffnet ihr Leben, dass sich aus Erzählungen reale Welten formen lassen. Ich nicke immer noch und sie flüstert. „Morgen.“ Morgen, hier um 17.30 Uhr. „Du musst pünktlich sein.“ Sie könne nicht warten. Und ich werde pünktlich sein, werde mein Büro rechtzeitig verlassen, damit ich als Erster da sein werde.Und dieses Mal ich auf sie warte.
Als wir uns wiedersehen, schenken wir uns zuallererst ein Lächeln. Sie sitzt auf der gleichen Bank wie damals, als ich sie das erste Mal ansprach. Ich nehme neben ihr Platz, und es fühlt sich auch schon gar nicht mehr komisch an, zwischen all den umherirrenden Menschen keinerlei Stress zu verspüren. Sie beginnt „Schön, dass du gekommen bist.“ Aber ich konnte ja gar nicht anders. „Wie geht es dir?“, fragt ich. Und sie blickt in die Ferne, schluckt etwas angespannt und beginnt zu erzählen.
Und jetzt: Absatz für Absatz von unten nach oben lesen.
Bildquelle: Unsplash / Pixabay