Ja, ich weiß genau, wann ich gestorben bin. Es war um 15 Uhr 42 am 21. Januar des Jahres 1957. Eine für die Jahreszeit untypisch strahlende Sonne schien an jenem Nachmittag, und ein schneidender Wind trieb weiße Wolken über den eisblauen Himmel und bescherte der Nordsee ungewöhnlich viele weiße Luftschlösser. Frank brachte mich mit seiner Gartenschere um, derselben, mit der er den wuchernden Efeu am Backsteinhaus schnitt und die Hecken und Rasenkanten in dem weitläufigen Garten stutzte, der sich leicht abfallend bis zu den schlammigen Marschen und Seitenarmen des Flusses erstreckte.
Sogar der Fluss hatte sein Pendant in Weiß. Es wehte ein bestimmter Wind, den ich seit meinen Kindheitstagen aus dieser Gegend am Fluss kannte — ein damals selten gewordener Wind, der die Wellen in Sturzbäche aus weißem Schaum verwandelte. Als Kind hatte ich dieses schwarze Gewässer genau studiert, hatte am Ufer eines seiner kleineren Seitenarme gesessen, den Saum meines gelben Rockes zwischen Knien und Kinn. Wellen und ihre vielfältigen Bewegungen besaßen für mich eine seltsame Anziehungskraft — von der tintenschwarzen, silbrig reflektierenden Oberfläche bei Windstille über die flüchtigen Parabeln des leicht gekräuselten Wassers bis hin zu den gleichmäßig plätschernden kleinen Wasserpyramiden und den klar ziselierten, weiß gesprenkelten Wogenkämmen. Es waren solche und noch stärkere Wogenkämme, die den Fluss an jenem Tag aufwühlten. Windstärke fünf; eine kräftige Brise, wie ein Seemann sagen würde. Und Frank, der mich getötet hatte, war zu seiner Zeit ein Seemann gewesen.
Er hatte große Hände, die Hände eines Gärtners, an vielen Stellen vernarbt, zerkratzt von den Klingen, die er führte: Schere, Astschneider, Rasenmäher und Sense. An einer Hand fehlte ein Finger, und sein Gesicht trug ein Brandmal aus früherer Zeit. Könnte man sich seinen Mörder aussuchen, man würde bestimmt nicht Frank wählen. Man würde jemanden mit weicheren oder wenigstens tüchtigeren Händen wählen — Händen, wie sie in Filmen oder Büchern vorkommen. Händen mit fünf Fingern, die einen Menschen mit Leichtigkeit erwürgen und die ein Genick mit einer einzigen kraftvoll-eleganten Bewegung brechen könnten. Aber wie wir alle wissen, ahmt das Leben nur selten die Literatur nach, und es schreitet auch nicht mit der wundersamen Konsequenz der Filme voran, in denen ich früher mitgespielt habe. Und falls Frank in seinem Leben auf irgendetwas vorbereitet worden war, dann darauf, einen beispiellos schmutzigen Mord zu begehen.
Wir waren im Gewächshaus, als Frank die Gartenschere an meinem Hals ansetzte. Mit beeindruckender Schwerfälligkeit tat sich an meiner Kehle eine tiefe, sichelförmige Wunde auf. Frank hielt mich fälschlicherweise für tot, doch als er mich bewusstlos durch die Rosen schleifte, kehrte die Welt zu mir zurück — eine Welt dahin treibender Wolkenfetzen. Er sah zu, wie mein restliches Blut in das schlammige Flussbett floss und steuerte seine eigenen Tränen bei. Dann entschied er sich gegen ein nasses Grab und trug mich wie eine lebensgroße Puppe zur Sickergrube, doch gerade, als er mich hineingleiten lassen wollte, bemerkte er, dass ich noch lebte. Also verwandte er eine letzte, tatkräftige Minute darauf, meinen Kopf vom Körper zu trennen — ein Körper, den er seit seiner frühen Kindheit auf diese oder jene Weise gekannt hatte. Das Letzte, was ich sah, war weder Himmel noch See noch Fluss, sondern die blutbespritzte Armbanduhr an Franks dickem Handgelenk. Die Zeit, die sie anzeigte, war 15 Uhr 42.
Damit endete die Zeit für mich, doch sonst endete nichts. Ich kann diese Tatsache nicht erklären; ich kann bloß staunen angesichts einer sich allmählich entspinnenden Erzählung, die unwahrscheinlicher und doch gewöhnlicher ist als alle Bücher, die ich als Kind in jenem Haus gelesen hatte. Staunen angesichts einer Erzählerin, für die Vergangenheit, Gegenwart und in gewissem Maß auch Zukunft eins sind, die sich dazwischen mit übermenschlicher Leichtigkeit bewegt.
Da bin ich also im Alter von sieben Jahren und schaukle auf der Holzschaukel, die an der alten Eiche befestigt ist. Der Baum ragt vom tiefsten Punkt der Wiese auf, die sich hinter dem grasbewachsenen Kanalschacht zum Fluss senkt. Michel und Frank sind da, entweder hinter oder unter mir. Ich frage mich besorgt, ob sie meine Unterhose sehen können, doch dann habe ich meine Sorge plötzlich vergessen und starre die große, traurige Frau an, die einen grauen Pelzmantel, eine schwarze Mütze und Gummistiefel trägt und zurückstarrt. Diese Frau bin ich, und diese Kleidungsstücke sind meine eigenen Gartensachen. Meine Körperhaltung verrät trotz des dicken Mantels eine gewisse Eleganz, ich lächle trotz der Aura knochiger Traurigkeit, die mich umgibt, und ich bin mein eigener Geist. Ich bin froh, dass ich das damals nicht wusste — froh, dass das Mädchen, das ich war, sich genüsslich in dieser beruhigenden Gegenwart, in dieser Vertrautheit sonnen konnte, ohne zu wissen, wie vertraut diese Gegenwart tatsächlich war.
Aber ich wusste es, als er meine Überreste schließlich in die Sickergrube fallen ließ, den verrosteten Metalldeckel an seinen Platz zurückschob, das Gras darüber mit neun blutigen Fingern glättete. Da wusste ich alles.
Du hast mich in der Schulaula die Rosalind spielen sehen, Frank, hätte ich gesagt, wenn ich hätte sprechen können. Aber das konnte ich natürlich nicht, und sein Name war in meinem letzten Rest Bewusstsein zu Anagrammen verdreht. Frank, Kranf, Rnafk, Arfnk, Frank. Die Menschen sind von Zeit zu Zeit gestorben, und die Würmer haben sie verzehrt, aber nicht aus Liebe. Aber der Liebe wegen haben Männer getötet, zahllos, endlos.
Und als er mich in mein Grab aus Exkrementen warf, geschah das vielleicht sogar in der schwachen Hoffnung, dass der Körper, nach dem es ihn so verlangt hatte, eines Tages dort enden würde, wo alle Abwässer enden: im Fluss und später im Meer. Und vielleicht war es ein Akt irregeleiteter, geschundener Liebe, dass Frank versuchte, mich in die Mündung des Flusses zu entsenden, den ich so geliebt hatte, und damit in eine letzte Umarmung durch das Meer, das uns allen seit Kindheitstagen von grenzenloser Weite zu sein schien.
Mich in dieses Meer zu tragen, mich in die umhüllenden Fluten dieses Flusses gleiten zu lassen, das hätte Liebe sein können, zumindest eine Liebe, über die Rosalind hätte nachsinnen können. Aber Leichen versickern nicht einfach wie Abwässer. Stattdessen hat Frank mich unentdeckt in einem unentdeckten Land zurückgelassen, bar jeder Aussicht, jemals das Meer zu erreichen oder einen Blick auf die Küste zu erhaschen, hinter der keine andere Küste liegt. Man würde ihn verhaften, denn die Spur aus Blut und Gewebe war so schmutzig und unübersehbar, wie sie nur sein konnte. Aber kein Gerichtsmediziner würde meinen Körper exhumieren, dafür hatte er gesorgt. Die Parzelle neben dem Grab meiner Eltern auf dem Friedhof würde ungeöffnet bleiben. Und ich würde dem Kreislauf alter Abwässer in einer Sickergrube nicht entrinnen.
Ich betrachte mich mit Augen, die so außergewöhnlich ruhig sind wie die Augen, mit denen Frank mich an jenem Nachmittag der eilig dahinjagenden Wolken und Winde betrachtete, am Nachmittag des Mordes. Ich könnte mich vor mir selbst fürchten, wenn Furcht nicht vollkommen nutzlos wäre. Das Mädchen, das ich war, wird seinen Weg gehen, und nichts, was ich, ihre Vertraute, tun könnte, würde das verhindern. Aber in ihrem Blick liegt Trost, und ich versuche, ihn zu verstehen. Noch immer schaukelt sie über einem kleinen Zufluss des großen Flusses auf der Schaukel, die ihr Vater mit so großer Sorgfalt gebaut hatte. Sie schaukelt so hoch, dass sie über den Fluss hinaussehen kann, über die mattgrüne Schlammbrache, die sie eines Tages Mosambik nennen wird, bis hin zu den weißen Schaumkuppen, die das Meer krönen. Ich drehe mich um und folge ihrem weit gespannten Blick zu einer Küste, hinter der keine andere Küste liegt, und nun ist ihr Gesicht auf gleicher Höhe wie mein Hinterkopf, und ich fühle, wie der Wind des Lebens mein totes Haar bewegt. Ich drehe mich erneut um und stelle fest, dass ich direkt in ihre wunderbaren Augen schaue.
Ich kann mich selbst in diesen Augen sehen, kann sehen, wie mein Spiegelbild zurückweicht, als sie in die entgegen gesetzte Richtung schaukelt, und wie es wächst, als sie zurück schwingt. Ich begreife, dass mein Trost darin liegt, gesehen zu werden: Ich werde gesehen, also bin ich. Ich weiß das mit einer Gewissheit, wie ich sie einzig in dem Moment empfand, als Frank den Kopf von meinem geschundenen Körper trennte, als ich meines kommenden Todes gewiss war. Süße Leichtigkeit des Todes! Meine Gewissheit besteht darin, dass ich bin, dass ich auf irgendeine Art existiere in den Teichen dieser herrlichen braunen Augen, die auf mich zu- und von mir fort schwingen, auf der Schaukel, die ihr Vater für sie gebaut hat, oder war es für mich?
So beginnt ihre Erzählung, wie sie enden wird: mit einem Geist.
André Schneider
Jahrgang 1978, ist Filmemacher, Autor und Schauspieler. Seine Filme „Männer zum Knutschen“ und „Le deuxième commencement“ wurden preisgekrönt, sein letztes Buch „Die Feuerblume“ ist eine Biographie der österreichischen Filmschauspielerin Marisa Mell. Gerade lief sein neuer Film, die französische Produktion „One Deep Breath“, in Cannes. Mehr zu lesen gibt es unter www.vivasvanpictures.wordpress.com
Es war mir eine Freude und eine Ehre. Eine wirklich fabelhafte Aktion, die Du Dir hier ausgedacht hast! Tausend liebe Grüße!
Und tausend Dank an dich für diesen Text und deine Bereitschaft, bei #sommerworte mitzumachen! 🙂 Alles Liebe, Dominik