And then came the rush of the flood

Als sie diesen kleinen Ort verlassen, schlägt der Kirchturm noch ein einziges Mal zum Abschied. Die Nacht ist somit noch jung, es war wohl erst elf Uhr, als Hannah vor Peters Tür stand. „Falls du zu müde bist, kann aber auch ich fahren“, sagt er. „Aber du kennst doch den Weg gar nicht.“, sagt sie. Die beiden grinsen, ohne sich dabei anzusehen. „Keine Sorge, Peter, ich bin noch fit genug. Und so weit ist es ja gar nicht mehr.“ – „Ich möchte dich gerne wieder küssen“ sagt Peter und wünscht sich im selben Augenblick, sich das nur gedacht zu haben. „Ich auch.“ Jetzt sehen sie sich auch an. Je weiter sie sich vom letzten Stück Leben, beziehungsweise von diesem einen Friedhof entfernten, desto sporadischer hat man auch die Straßenlaternen gepflanzt. Die Zivilisation nimmt ein Ende. „Bald kommen wir wohl am Rand der Scheibe an, glaubst du nicht.“ – „Mhm. Aber von dort müssen wir dann noch zehn Kilometer weiter.“

„Warum ich, Hannah?“
– „Was meinst du?“
„Warum machst du mit mir diesen Ausflug?“
– „Weil du es bist.“
„Und … und warum hast du mir damals nie gesagt, was du für mich empfindest?“
– „Weil …“

Erwischt. „Weil ich auch Angst hatte.“ Peter lächelt, einfach, weil er weiß, dass er nicht der Einzige war, den die Angst daran gehindert hat. „Und das ist ja Aufgabe des Mannes, verstehst du?“, sagt Hannah und muss dabei selber lachen, weil die beiden schon lange Teil dieser Generation sind, wo es nicht mehr so ist. Wo sowohl Mann als auch Frau Angst haben dürfen, ihre Gefühle zu offenbaren. Wo sozusagen beide dabei scheitern dürfen, ihre Liebe zu zeigen.

„Hast du Hunger?“, fragt sie noch, bevor sie beinahe eine Vollbremsung hinlegt und das Auto am Straßenrand abstellt.

„Lektion 4: Sei immer angeschnallt, dann bist du auf alles vorbereitet, was das Leben … oder meine Fahrkünste zu bieten haben.“
– „Du liegst falsch.“
„Warum?“
– „Wir sind schon bei Lektion 5.“
„Aja.“
– „Aber zeige ich damit nicht auch das ich Angst habe?“
„Nein, Peter. Verwechsle das nicht. Angst wäre es gewesen, wenn du erst gar nicht ins Auto gestiegen wärst. Das Anschnallen ist vielmehr Vorsicht, und auf die sollte man nur in den seltensten Fällen völlig verzichten. Ich will ja, dass du mutig wirst, aber nicht lebensmüde.“

Sie beugt sich über die Leere zwischen ihren beiden Autositzen und küsst Peter. „Ich hoffe, du bist nicht kälteempfindlich.“, sagt sie noch, als sie auf die Rückbank greift, eine Decke hervorzieht und schließlich aus dem Auto steigt. „Jetzt nehmen wir nämlich ein Bad.“ – „Okay, Hannah. Jetzt klingst du eindeutig etwas lebensmüde. Spürst du nicht, wie kalt es ist?“ – „Ach, Peter. Dafür ist ja die Decke da. Und jetzt komm mit.“ Sie hat umwerfende Argumente, und als sie den Weg zum Bach zurückgelegt haben, fällt Peter auf, was er bisher noch nicht bedacht hat: „Sollen wir da jetzt nackt reingehen?“ Hannah küsst ihn, zieht sich zuerst ihre Schuhe und Socken, dann ihren Pullover, ihr Shirt, ihren BH, ihre Hose und ihren Slip aus und hüllt sich in die Decke. „Hör auf so viel nachzudenken, Peter, okay?“ Wenn es doch nur so leicht wäre: „Aber ich könnte mir da jetzt eine Lungenentzündung holen.“ Hannah seufzt, vollkommen nackt in die Decke gehüllt. „Ja, das könntest du. Und bis dahin rauchen wir alle Zigaretten Zug um Zug, um zu feiern, dass du noch keine Lungenentzündung hast.“

Erst jetzt erkennt er die Bedeutung dieser Zigarette auf dem verlassenen Friedhof. „Komm schon.“, sagt sie. Und während er Pullover und Shirt, Socken und Schuhe und schließlich Hose und Boxershort auszieht, ist er begeistert von dieser einen Zigarette. Man kann stets drüber nachdenken, was passieren könnte, und deshalb etwas nicht wagen. Oder aber, man wagt es, obwohl man weiß, welche Folgen es haben kann. Mit Vorsicht anstatt mit Angst durch das Leben gehen. „Kann ich bitte auch etwas Decke haben?“, fragt der nackte Peter. „Hier bitte.“ Hannah wirft ihm die Decke zu und steigt hinein in den Bach, vollkommen nackt, wunderschön anzusehen, in dieser Nacht, an dieser Stelle, wo der Nebel sich nur ganz sanft auf die Wasseroberfläche legt, wo der Mond heller leuchtet als anderswo. „Es ist verdammt kalt.“, sagt sie und schon steigt auch Peter ins Wasser. Sie hat natürlich recht. Wie immer.

Sie hatten sich auch damals schon einmal nackt gesehen. Es war sozusagen ein Hobby ihres gemeinsamen Freundeskreises, irgendwann nachts zu einem Fluss oder See zu fahren und nackt baden zu gehen. Deshalb hat er auch heute kein Problem damit. Man kennt sich eben nackt, aber kennt man sich wirklich? Hannah hat sich verändert, ist wundervoll anzusehen, sieht in ihrer vollkommenen Nacktheit immer noch – oder gar: viel mehr – wie ein Kunstwerk aus. „Mach das nicht!“, ruft Peter, als Hannah mit einer Handvoll eiskaltem Wasser auf ihn zugetapst kommt. Doch schon beginnt ein Kampf um das Vorrecht im Wasser, sie lachen, laufen herum, bespritzen sich mit dem ständig fließenden Wasser des Baches, ignorieren die spitzen Steine des Bachbetts. Bis Hannah ausrutscht, das Gleichgewicht verliert und etwas hart am Wasser aufkommt. Peter eilt herbei, hilft ihr hoch und gibt ihr Halt. Noch immer außer Atem, noch immer mit einem Lächeln auf den Lippen sagt er: „Ich weiß, das klingt pathethisch, aber ich glaube, das ist die beste Nacht meines Lebens.“ Und dann küssen sie sich, ihre Hände auf seinen Schultern liegend, seine Hände um ihre Taille, bei Minusgraden in einem Bach fern jeglicher Zivilisation. „Deines bisherigen Lebens“, sagt sie. „Und jetzt raus mit uns.“

Sie laufen zur Decke, jeder versucht als Erster dort zu sein, um sie in noch trockenem Zustand zu bekommen, aber als sie fast gleichzeitig ankommen, hüllen sie sich einfach zu zweit darin ein. Trocknen sich ab. Berühren sich. „Egal, was jetzt noch kommt. Es kann, glaub ich, nicht mehr besser werden.“ – „Das kann es immer, Peter. Immer.“ Sie schlüpfen, halb abgetrocknet wieder in ihre Kleidung und setzen sich auf eine Bank, die schon die ganze Zeit am Ufer des Bachs stand. „Und jetzt stell dir vor, du hättest wegen deiner möglicherweise auftauchenden Lungenentzündung darauf verzichtet.“ – „Dann hätte ich sie wohl wirklich verdient.“ – „Ach nein. Niemand verdient etwas Schlechtes.“

Und mit einem Mal ist es Peter egal, dass es gefühlte -5 Grad hat, und dass seine Füße wohl noch nicht ganz trocken waren, als er sich seine Socken wieder angezogen hat, dass er zittert und keinerlei Ahnung hat, wo er sich jetzt gerade befindet und dass er es eigentlich nicht mehr tun wollte. Er wollte es nicht tun, aber wie hätte er sich dagegen wehren können. Er hat seinen Kopf an Hannah verloren. Er hat sich verliebt, Hals über Kopf, obwohl er es nicht mehr zulassen wollte. Er sieht sie an, selbst als der Nebel auch diese Stelle der Welt erreicht und der leuchtende Mond damit an Strahlkraft verliert. Hannah und er, Peter und sie. Er küsst sie. Sie küsst ihn. Sie küssen sich. Es ist die perfekte Nacht, es ist der perfekte Nebel und es ist das perfekte Zittern. Es ist perfekt. „Warte, Peter. Es gibt etwas, das ich dir sagen muss.“

(Den ersten Teil von Hannah und Peters Nacht kann man hier nachlesen. Und den zweiten Teil hier.)

Bildquelle: SplitShire / Pixabay

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