Every now and then I see a part of you I’ve never seen

From_now_any_other_pain_is_bearable

‚Es ist ja so‘, denkt sich Peter. ‚Vielleicht lebe ich auch nur für diesen einen Moment. Vielleicht ist das hier genau das, worauf ich so lange Zeit vergeblich gewartet habe, die Erfüllung meiner Träume, vielleicht ist es das hier. Vielleicht ist das hier das Leben.‘ Immer noch hängt er an ihren Lippen, sie küssen sich, auf dieser verlassenen Autobahnraststätte, mitten im Nirgendwo. ‚Es ist ja so‘, denkt er noch einmal und hört dann endlich auf zu denken.

Hannahs Lippen fühlen sich zärtlich an, so sanft und ruhig, während Peters Herz nicht mehr zu pochen aufhören will und sich die Nervösität sicherlich auch bis zu seinen Kussfähigkeiten durchsetzt. Da waren sie nun, am Beginn dieser Nacht, im Dunkel des Nichts, am Beginn einer Geschichte. Der Nebel setzt sich langsam auf ihre Haut. Die Temperaturen sind schon seit Tagen stetig gefallen, der Herbst oder gar Winter schickt schon seine ersten Vorboten vorbei. „Wir müssen weiter.“, sagt Hannah, lächelnd, als sie eine kurze Kusspause erwischt. „Wohin?“, möchte Peter fast fragen, aber er macht es dann doch nicht. Nicht das Ziel sollte ihn interessieren, sondern der Weg dahin. Und bisher war der Weg schon gespickt mit zahlreichen Überraschungen, eine Fahrt über eine leere Autobahn, einem Automatenkaffee und einer Kussszene am Gehsteig. Es ist egal, wohin es nun geht.

Sie setzen sich wieder hinter das Steuer von Hannahs Wagen und im Licht, welches durch das Öffnen der Autotüren angegangen ist, nutzt Peter die Zeit um die wundervollen Konturen von Hannahs Gesicht in seinen Kopf einzuprägen. Die grünen Augen mit ihren langen Wimpern, die zarte Nase und ihre umwerfenden Lippen, deren Geschmack er noch vor wenigen Minuten genießen konnte. „Schau mich nicht so an, als wär ich ein Kunstwerk.“ Doch genau das macht er und genau das ist die perfekte Beschreibung für diese Frau hinter dem Steuer des alten Renault Clio. Das Licht geht aus, der Vorhang fällt, der Motor läuft und der Rückwärtsgang ist eingelegt. Sie fahren wieder auf die Autobahn auf und am Ende bleibt diese Raststätte nur eine kurze Anekdote dieser Nacht.

Sie sprechen nicht. Es ist doch alles schon gesagt. Peter hat seinen Kopf ans Fenster gelehnt, folgt dem reflektierenden Licht der Seitenplanke, und während er nun wieder ganz ruhig ist, schaffen es seine Augen nicht, dem vorbeihuschenden Licht die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Hannah sitzt konzentriert am Fahrersitz, das Lenkrad mit beiden Händen fest im Griff, den Blick auf die wenigen Meter vor ihr gerichtet, die noch nicht vom Nebel verschluckt wurden. Er weiß nicht, wie lange sie wieder schon unterwegs gewesen sind, als sie wieder einmal blinkt, mit einem gekonnten Spiegel-Spiegel-Schulterblick die Dunkelheit überprüfte und dieses Mal die Autobahn endgültig verlässt.

„Hier bin ich noch nie abgefahren.“, sagt sie und Peter lächelt. Es ist ihm egal, wohin die Reise heute Nacht noch gehen wird. Er vertraut, und gerade dieser Zustand macht ihn glücklich. Das Tempo ist gedrosselt, die Ortsgeschwindigkeit wird penibel eingehalten, an Kreuzungen halten sich die beiden länger auf, um die nicht bekannte Richtung zu eruieren. „Gleich müssten wir da sein.“, erklärt Hannah, „Jeder Ort muss doch schließlich einen Friedhof haben.“ – „Einen Friedhof?“ – „Mhm.“ Der Wagen rollt auf den leeren Parkplatz vor den abbröckelnden Mauern.

„Komm mit.“ Peter hasst Friedhöfe und Hannah weiß das auch. Etwas widerwillig löst er seinen Gurt, öffnet die Tür und steigt auf den Kies, der sich auf dem ganzen Gelände als Untergrund aufdrängt. „Friedhöfe sind beschissene Orte.“, sagt er, „Daran hat man nur beschissene Erinnerungen.“ Sie scheint seine Worte zu ignorieren, nimmt ihn an der Hand, zieht mit der anderen Hand das schwere Eisentor auf und schon tauchen sie ein in dieses Meer aus Gräbern. Langsamen Schrittes gehen sie vorbei, an den ersten schweren Grabsteinen, an den zahlreich geschmückten Gräbern, an den vereinzelten roten Lichtern, die diese typischen Kerzen in ihrer roten Plastikumhüllung und dem goldenen Deckel spenden. Er ist nicht groß, vielleicht einhundert Gräber, aber in dieser Nebelnacht wirkt er einnehmender als all die anderen Friedhöfe, die er bisher besucht hatte.

„Was glaubst du, ist ihm passiert?“, fragt Hannah, als sie plötzlich vor einem Grab Halt machten. Der Verstorbene, Peter rechnet kurz in seinem Kopf nach, hatte nur fünfunddreißig oder sechsundreißig Jahre gelebt. Vor dreißig Jahren ist er hier begraben worden und sein Grab war überwuchert mit ungepflegten Pflanzen. Das Einzige, was nur ansatzweise darauf hindeutet, dass ihn jemand besucht, ist eine brennende Kerze in seiner Laterne. „Krebs.“, murmelt Peter, „Oder Selbstmord.“ – „Nein. Nein, Peter. Was glaubst du, ist ihm passiert, bevor er gestorben ist?“ – ‚Vielleicht hat er sich nachts auf einem unbekannten Friedhof herumgetrieben‘, denkt er, ‚und jemand hat ihn hinterrücks zusammengeschlagen.‘ Aber er schweigt. „Deswegen sind Friedhöfe so beschissen.“, sagt er, „Weil sie einem nicht zeigen, wie das Leben war, sondern nur, dass man offensichtlich sterben musste.“

„Ich glaube, Maximilian war verheiratet.“, murmelt Hannah, Peters Worte geflissentlich ignorierend, „Er hatte eine wunderschöne Frau und er hat sie über alles geliebt. Sein Beruf war vielleicht nicht das, was er sich immer erträumte, aber er war nicht unglücklich. Er schuf etwas, und das machte ihm Spaß. Gemeinsam mit seiner Frau hat er auch ihr gemeinsames Haus gebaut. Denkst du nicht?“ Peter sieht sie an und ist mit einem Mal wieder fasziniert, was in Hannahs Kopf vorgeht. Und er denkt an all die Menschen, die er schon verloren hatte, an all diese Menschen, die keinen Platz in der Zukunft mehr haben. Die nur mehr in der Vergangenheit richtig leben können. Er denkt daran und wischt sich instinktiv über die Wange, als Hannah sich ihm zuwendet: „Du weinst ja.“ Ja, er weint und doch ist es ihm nicht so wirklich bewusst. Diese ganze Atmosphäre, diese Hunderten Toten, diese verdammte Stille, all diese Gräber. „Ich will nicht sterben.“, murmelt er.

Hannah greift in ihre Hosentasche und holt eine Packung Zigaretten hervor, zieht zwei davon heraus, steckt sie gleichzeitig in den Mund, zündet sie an, und hält danach Peter eine hin. Er muss lachen. „Ernsthaft? Ich sag dir, dass ich nicht sterben will (‚Was für ein dummer Satz!‘, denkt er jetzt. ‚Ich hör mich an, als wär ich ein Kind.‘) und du hältst mir eine Zigarette hin?“ – „Ja, Peter. Lektion 4, also wenn man mal davon ausgeht, dass Lektion 1 war, dass du mutig genug warst bei mir einzusteigen; dass Lektion 2 war, mir dein Herz auszuschütten und dass Lektion 3 schließlich war mich zu küssen, also, was ich eigentlich sagen wollte: Lektion 4 ist ganz einfach. Lieber Peter: Du wirst sterben. Und jetzt zieh einfach an, und genieße jeden einzelnen Zug, bei dem du noch nicht tot bist.“ Und er macht es. Dank der starken Luftfeuchtigkeit seiner nebeligen Atemluft kratzt sie auch viel weniger als bei seinen bisherigen Rauchversuchen. „Aber wehe, du beginnst jetzt ernsthaft zu rauchen, Peter. Du wirst sterben, ja, klar. Aber du musst die Zeit deines Lebens ja nicht unnötig verkürzen, oder?“ – „Und du rauchst?“ Sie schmunzelt. „Nur an Abenden wie diesen.“ – „Du machst das öfter?“ Mit jedem Zug erhellt die brennende Tabakglut ein klitzekleines bisschen die Nacht, doch drei, vier Züge vor Schluss kann er sich nicht mehr halten, hustet, als gäbe es kein Morgen mehr. „Komm. Gehen wir zurück“, sagt Hannah und bleibt ihm wieder einmal eine Antwort schuldig.

Als sie wieder in das noch warme Auto steigen, wird ihnen erst bewusst, dass es draußen wohl zum ersten Mal in diesem Jahr Minusgrade erreicht hat. Zumindest in diesem kleinen Ort, in dem sie heut Nacht gelandet sind. „Ich glaube, er war Koch.“, sagt Peter. „Wer?“ – „Maximilian natürlich.“ Hannah schmunzelt, während das Licht im Auto wieder ausgeht und der Schlüssel im Zündschloss umgedreht wird.

(Den ersten Teil von Hannah und Peters Nacht kann man hier nachlesen. Und den dritten Teil hier.)

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