Herr Leitner entschließt sich, auf die Welt zu kommen

Mit der eigenen Geburt ist es ja leider so, dass man es nicht einfach so aus dem Gedächtnis abrufen kann, sondern auf die Erinnerungsfähigkeit anderer Menschen angewiesen ist. Die Geschichte meiner Geburt wurde mir über die Jahre viele Male von verschiedenen Seiten erzählt, manchmal mehr ausgeschmückt, manchmal fast zu rational. Und in einem waren sie sich alle einig: Eine leichte Geburt war das damals nicht wirklich.

Es muss wohl ein leicht regnerischer Tag gewesen sein, der fünfte Mai 1988, als im Krankenhaus sozusagen bereits alles für mein Schlüpfen vorbereitet war. Nur ich, ich wollte nicht wirklich. Während der Schwangerschaft habe ich mich drei Mal im Bauch meiner Mutter gedreht. Einmal „falsch“ ungefähr in der Mitte, einmal wieder zurück in die richtige Position im 8. Monat und dann schließlich, um meinen Unmut kund zu tun, noch einmal kurz vor der Geburt. Ein paar Tage hätte ich sogar noch Zeit gehabt, aber an eben diesem fünften Mai, einem Donnerstag, setzten bei meiner Mama die Wehen ein. Um es kurz zu machen (die Erzählungen dazwischen werden auch mir glücklicherweise stets erspart): 30 Stunden lang haben die Menschen im Krankenhaus versucht, mich noch einmal in die richtige Lage zu bringen – ich blieb stur und so entschied man sich dann dafür, einen Kaiserschnitt zu machen. Nach insgesamt 31 Stunden, um 17 Uhr 17 gab es einen neuen Erdenbürger auf dieser Welt.

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Der Stolz meines Papas war, und da konnte er es offenbar noch viel besser zeigen, riesig: Das Polaroid, die erste fotografische Bestätigung meiner erfolgreichen Geburt, in der Tasche machte er sich auf den Weg zu meinen Großeltern (mütterlicherseits), die natürlich schon gespannt auf die Nachricht gewartet hatten und sich nun über ein Bild freuten. Und wenn man es so sagen kann: Ich war kein schönes Frischgeborenes. Das ist natürlich auch verständlich, 31 Stunden Geburt sind eben nicht nur für die Mutter anstrengend, auch fürs Kind selbst. Und so war ich zwar der neue frische Stolz der Familie, aber man wollte noch etwas damit warten, mich herumzuzeigen. Deshalb, so meint zumindest die Mär, waren die ersten Worte meiner Oma, als sie mich schließlich sehen und halten konnte, „Naja, so schlimm sieht er ja gar nicht aus.“ Wenn man sie heute danach befragt, streitet sie jegliches Wort ab, aber die Wahrheit, die ist natürlich irgendwo da draußen.

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Wer auch nicht froh darüber war, war meine Schwester. Es ist doch klar: Zuerst ist man das erste Kind, die große Erfüllung aller familiären Träume, und plötzlich kommt da noch jemand in diesen Mikrokosmos, in dem man es sich mit zweieinhalb Jahren gerade erst mal etwas wohnlich eingerichtet hat. Die Eifersucht war das bestimmendste Thema unserer Geschwisterschaft, anfänglich natürlich von ihrer Seite, gegen Ende meiner Jugendtage schließlich viel mehr von meiner. Aber ich schweife ab: Es war wahrscheinlich gar nicht die Eifersucht, die dazu führte, vielleicht war sie auch nur aufgeregt. Aber als mein Vater und sie meine Mutter und mich abholten, hat sie mich auf der Fahrt nach Hause angekotzt. Und damit nicht genug, wollte sie mich in den ersten paar Wochen meiner Existenz desöfteren auch wieder ins Krankenhaus zurückschicken.

So oder zumindest ähnlich waren meine ersten Schritte in diese Welt. Sechsundzwanzig Jahre bin ich nun schon Teil von ihr. Und doch mache ich mir immer noch Gedanken: Bin ich das letztgeborene Kind meiner Eltern, weil ich mit den 31 Stunden meiner Geburt nur Angst und Schrecken verbreitet habe? Und dann ist da noch die andere Geschichte. Dreieinhalb Jahre vor meiner Geburt, kam mein Bruder zur Welt, Stunden vor seiner Geburt verstorben, offenbar wegen Unfähigkeit und Pfusch im Krankenhaus. Neben der Frage des Warums frage ich mich natürlich auch, ob es mich gäbe, wenn seine Geburt geglückt wäre. Bekam ich diese Chance zu leben nur, weil sie ihm versagt blieb? Das alles ist reine Spekulation, ich weiß. Aber diese Fragen, die bleiben. Da können sie noch so oft bereits beantwortet worden sein.

Bild 1: Hans / Pixabay
Bild 2: Namensnennung Bestimmte Rechte vorbehalten von Nanagyei

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