„Es ist unglaublich hoch“, sagst du. Denkst aber nicht weiter darüber nach und krallst deine Finger in die Rinde des alten Baumes. Frohmütig und leichtsinnig erklimmst du Ast um Ast bis du dich auf einem davon niederlässt. Beeindruckt sehe ich dir zu, stehe für einen kurzen Moment sogar mit offenem Mund da. „Komm hoch!“, brüllst du runter und hältst mir wenig hilfreich deine Hand hin. Noch zu viele Meter trennen uns, um uns erreichen zu können. Ich war noch nie gut im Klettern. Und wenn ich einmal etwas erklomm, hatte ich eine beschissene Angst, den Abstieg zu wagen. Heute aber geht diese Angst bereits schon vor dem Aufstieg los. „Ich schaff‘ das nicht!“, antworte ich und versuche tollpatschig mit meinen Fingern einen ersten Halt in der Rinde zu finden. „Ich bin für sowas wirklich nicht geeignet. Und außerdem hab‘ ich eine Riesen-Höhenangst.“ Dabei ist die Höhe doch gar nicht das Problem.
Ewigkeiten vergehen, bis ich wieder aus meinen Gedanken erwache und zu dir hochblicke. „So hoch ist es doch gar nicht, komm! Ich helfe dir!“ Und darum geht es ja gar nicht. Nicht die Höhe macht mir Angst. Ich bin nicht ängstlich, weil ich hoch hinaus will. Ich würde es sicherlich schaffen, etwas weniger agil wie du, aber schaffen würde ich es, da bin ich mir sicher. Vielleicht wie ein betrunkener Koala. Wovor ich wirklich Angst habe ist das Fallen. Und, das weiß ich: Selbst wenn ich aus zwie, drei Metern Höhe von diesem Baum fallen würde, mir würde höchstwahrscheinlich nicht viel passieren. Doch trotzdem macht mir die Möglichkeit des Fallens Angst. So viel Angst, dass ich nicht nach oben strebe. Dass Verharren die wahrhaft angenehmste Lösung von allen ist. Doch du lässt nicht locker. Und stehst neben mir.
Von mir relativ unbemerkt hast du den Abstieg gewagt und stehst nun an meiner Seite. „Schau.“, sagst du und zeigst mir deinen Weg. Wo du Halt gefunden hast, wo du Acht gegeben hast, wo man eine Pause machen kann. Zeigst mir deinen Weg und ich befolge die Schritte, mit zitternden Händen und vollkommen stumm. Immer auf deine Anweisungen konzentriert blicke ich nie nach unten und wir kommen tatsächlich an. Auf deinem Ast, von dem du mich hinaufgewünscht hast. Wir setzen uns nieder, ich atme tief durch und versuche, etwas ruhiger zu werden. Die Höhe wird mir erst etwas beiläufig bewusst, doch umso fester kralle ich mich dann in den massiven Ast, auf dem wir sitzen.
„Hast du denn keine Angst, hinunterzufallen?“, frage ich dich. „Manchmal ja. Aber weißt du, wenn du es nicht als Angst siehst, sondern als Risiko, fühlt es sich ganz anders an. Wenn die Angst Überhand nimmt, macht es einen starr. Doch wenn einem das Risiko des Fallens bewusst ist, wenn man weiß, es kann jederzeit passieren, dann ist man einerseits vielleicht grundsätzlich achtsamer, aber vor allem andererseits schon etwas darauf vorbereitet. Das hilft.“ Ich nicke. So habe ich es noch nicht gesehen. „Und … und was machst du, wenn du einmal fällst?“ Du lachst. „Dann versuche ich gut zu landen. Auf den Beinen aufzukommen oder zumindest rasch wieder auf die Beine zu kommen. Ich versuche mich, noch irgendwo festzuhalten, aber wenn ich sehe, dass das Nächste nur der Boden ist, dann schließe ich die Augen.“ – „Warum das denn?“ – „Wenn ich weiß, dass ich gleich am Boden ankommen werde, mache ich die Augen zu und fange so den Aufprall ab. Mit meinen Gedanken und meinen Beinen. Klingt komisch, aber es funktioniert.“ Es klingt komisch. „Aber das hört nie auf, oder?“, frage ich. „Was?“ – „Die Angst oder das Risiko, wenn man einmal oben ist, wieder hinunterzufallen?“
„Nein. Das hört nie auf. Ach Gott, wär das schlimm, wenn wir uns dieser Angst nicht mehr bewusst wären. Wir würden uns unbesiegbar fühlen, denkst du nicht?“ – „Mhm. Stimmt schon.“ Du siehst mich an, lächelst. Ich bin beeindruckt von deinen Gedanken, löse den verkrampften Griff etwas vom Ast. „Wollen wir runter?“ Du siehst mich erwartungsvoll an. „Wieder runterklettern?“ Gerne, runterklettern sollte funktionieren, sollte es nicht in 2-3 Stunden dunkel werden. „Lass uns springen!“ – „Was?“ – „Komm, schau runter. Trotz deiner Höhenangst. Ich sag dir, das da sind maximal 3 Meter. Und unter uns ist eine Wiese, ein lockerer Boden und kein Asphalt.“ – „Da kann nichts passieren?“ – „Ach, es kann immer was passieren. Aber wenn du einmal den Mut dazu aufgebracht hast, dein Fallen selbst in die Hand zu nehmen, also es nicht geschehen lassen und sondern es selbst zu erledigen, dann verschwindet mit der Zeit auch die Angst.“ Ich suche meinen Mut zusammen, warte nicht, bist du zuerst springst, stoße mich von dem Ast weg, die Millisekunden verfließen wie in Zeitlupe, ich schließe die Augen und.
Bildquelle: Some rights reserved by dmnkltnr