Der Sommer der Augenringe

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Ich wollte über den Sommer schreiben, aber ich hatte nur giftige, eifersüchtige Worte über den Urlaub der Anderen, über ihre Beziehungen, über ihre Urlaubsziele, über meine eigenen überzogenen Wünsche und Ziele. Ich mache Urlaub mit dem Finger auf der Landkarte, ein wenig auch in Büchern. Für alles andere bin ich eh viel zu müde.

Ich schlafe einfach nicht lange genug. Meine Augenringe werden täglich breiter und ich erzähle allen Menschen davon, wie müde ich bin. Sie geben mir Tipps oder dichten mir Stoffwechselkrankheiten an. Ich kann mir darüber keine Gedanken machen. Es ist viel zu anstrengend, sich Gedanken über Stoffwechselkrankheiten zu machen, wenn du eine gigantische Müdigkeit mit dir herumträgst. „Der Sommer, in dem ich ständig müde war“ ist aber eine gute Überschrift für meine spätere Autobiografie. Immerhin.

Ich möchte wieder in der Nacht wach sein und mit dem Mond und den Sternen reden. Es gab eine Zeit, da waren sie meine einzigen Freunde. Wenn ich nicht so eine schreckliche Höhenangst hätte, würde ich mich gerne auf das moosbewachsene Schieferdach, unter dem ich zu wenig schlafe, setzen und mich die ganze Nacht lang mit dem Mond unterhalten. Er würde nicht antworten, denn natürliche Satelliten antworten nur in den seltensten Fällen. Sternschnuppen haben mir auch noch nie einen Wunsch erfüllt. Aber wenn ich an Rosetta, die Sonde, die zehn Jahre lang zu einem Kometen geflogen ist, denke, kommen mir die Tränen. Als ich mir die Social Media-Kampagne dazu angesehen habe, musste ich weinen. Sonst passiert mir das nur bei den Reden fiktiver amerikanischer Präsidenten.

Und so trage ich meine Augenringe durch die Weltgeschichte und suche Poesie an Orten, an denen ich sie nicht zu finden werde. Mein halben Leben lang hat mich der Gedanke, endlich weg von diesem Flecken Erde zu können, angetrieben und dennoch kehre ich zwei Mal im Jahr zurück, wie so ein Lachs. Und dann denke ich wieder an meine eigenen Worte: Langweilig kann es überall auf der Erde sein.

Ich stelle mir vor, dass ich mir für eine Woche ein kleines Haus am Meer miete. Natürlich mit dem Hintergedanken, ein großes literarisches Werk zu schaffen. Ohne Ablenkung durch das Internet, nur das Meer und die eigenen Gedanken. Am ersten Tag wäre ich natürlich total erschöpft von der Reise und würde nach einem kleinen Spaziergang am Strand (das Haus würde natürlich direkt am Meer liegen) und einer halben Flasche Wein einschlafen. Mit meinen aktuellen Schlafgewohnheiten würde ich um 5:30 aufwachen und würde langsam frühstücken, um dann „irgendwann“ mit dem Schreiben anzufangen. Das „irgendwann“ wäre wahrscheinlich am Abend, dann käme aber gleich wieder die Müdigkeit, so nach drei Absätzen. Das würde so weitergehen, vielleicht würde ich am vorletzten Tag ein wenig mehr schreiben, um das Packen zu prokrastinieren. Das klingt so sehr nach mir und ich würde es schon alleine deswegen gerne machen, so als private selbsterfüllende Prophezeiung.

Ich erinnere mich an den Sommer vor drei Jahren, als die Hitze unerträglich war und ich ein Foto meiner Balkontür machte:

Der Sommer ist da draußen. Du musst nur vor die Tür treten, dich auf den Balkon und ihm stellen. Das trübe Dunkel des Zimmers ist nur eine Illusion, denn es ist taghell und die flirrende Hitze will, dass du dich ihr stellst. Dies ist der Sommer deines Lebens, gesponsert vom Brausehersteller deines Vertrauens. „Mach was aus deinem Sommer“, sagt die Brausewerbung. Ich müsste nur rausgehen und etwas machen und natürlich so viele Fotos wie nur möglich davon machen, damit auch alle sehen, wie unglaublich toll mein Sommer war.

Ich schalte den Ventilator ein und stelle mir vor, es wäre heiß.


joel_aktuellesfotoJoël Adami

So flauschig wie eine Flugzeugturbine. Kapitän des großen Seelenzeppelins, Teil der Chef_innenredaktion des progress, macht Radio und studiert „was mit Umwelt“.

Bildquelle: NamensnennungKeine kommerzielle NutzungWeitergabe unter gleichen Bedingungen Bestimmte Rechte vorbehalten von Jøël

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