Was viele über meine Person nicht wissen ist, dass ich ein großes schauspielerisches Talent bin. Schon in mehreren großen Ensembles durfte ich ein wichtiger Teil sein und dabei wahrscheinlich recht wenig zur Kunst beigetragen, aber immerhin doch etwas für mein Leben gelernt. Und nicht umsonst nannte ich im letzten Jahresbericht, welchen ich im Abschlussjahr bekam, gleich drei Berufswünsche, während andere Arzt, Raumfahrttechniker oder Biochemiker werden wollten. Bei mir stand da, recht dekadent: Journalist, Schriftsteller und Schauspieler.
Alles begann, wie so oft, in den heiligen Hallen des Kindergartens. Als eben dieses Gebäude zu klein wurde und die Politik für den späten Babyboom der endenden Achtzigerjahre Geld locker machte, wuchs der Kindergarten in meinem Dorf um zwei Gruppen, fünfzig Kinder und vier Tanten. Und zur feierlichen Eröffnung, wo sozusagen die High Society der frühkindlichen Bildung des Landes zusammenkamen, hat man sich natürlich auch etwas überlegt. Auf einem kleinen Klettergerüst aus Plastik sollten wir Kinder den Umbau, welchen wir nur am Rande mitbekommen haben, Revue passieren lassen. Und ich – als Sympathieträger im zarten Kindesalter – war natürlich jenes Kind, welches als einziges nicht nur einen Absatz, sondern gleich zwei auswendig lernen musste.
Die Aufregung war groß, die kleine Latzhose übergestreift, der gelbe Helm am Kopf und den überdimensionalen roten Bleistift in die Brusttasche gesteckt, nahm das Schauspiel seinen Lauf. Alles war perfekt durchgeplant, der erste Absatz war bereits fehlerfrei vorgetragen worden, die anderen Kinder genossen ihren Auftritt, bis schließlich ich wieder an der Reihe war. Hoch konzentriert legte ich los, ratterte die ersten zwei Zeilen herunter, bevor ich mit „Achso, nein.“ bemerkte, dass ich noch einmal mit dem ersten Absatz begonnen hatte. Mein schon damals roter Kopf wurde noch röter, doch das freundliche Lachen des riesigen Publikums zeigte mir das erste Mal, welche Rampensau in mir steckte. Fröhlich begann ich mit meinem Abschlussabsatz, wurde freudig im Anschluss von meinen Kindergartentanten und meinen Eltern freudig empfangen und verstand: Eine kleine Aufheiterung hat noch niemandem geschadet.
Und auch meinen zweiten großen Auftritt brachte ich im Kindergarten hinter mich. Das war damals sozusagen der Höhepunkt meiner Karriere, und ob ich die Rolle als Bauarbeiter davor oder danach einordnen muss, da versagt leider meine Erinnerung. Aber weil ich eben ein so süßer Junge war (und das war ich wirklich), bekam ich von meiner Tante Ursula die Hauptrolle zugesprochen: Ich solle, in der Kindergartenaufführung des Lebkuchenmanns im örtlichen Pfarrsaal, den sagenumwobenen Lebkuchenmann spielen. Der Stolz war überwältigend, der zu lernende Text überschaubar. Denn außer: „Keiner mich fangen kann, ich bin der Lebkuchenmann“, musste ich nicht viel ins Mikrofon sagen. Und stattdessen viel öfter laufen, beziehungsweise flüchten, bevor ich mich den armen Kindern aufopferte.
Am Tag des großen Auftrittes war ich aber plötzlich vom Laufen viel mehr angetan als vom Sprechen. Während man mich bei den ersten Runden noch halbwegs gut verstand, begann ich irgendwie, die Geschwindigkeit des einen Satzes so nach oben zu schrauben, dass plötzlich nur mehr ein „Kner mich fngn kann, ich bn dr Lebkchnmann“ ins Mikrofon gebrüllt wurde und so zu einem unverständlichen Kauderwelsch verkam. Für mich kein großes Problem, da ich ja damals wohl definitiv davon überzeugt war, dass die Hunderten Erwachsenen im Publikum schon längst verstanden hatten, worum es in dieser Geschichte ging. Dass ich der Lebkuchenmann sei (schon der Kartoffelsack mit Mandel-Filz hätte sie überzeugen sollen), und dass ich wie der geölte Blitz unterwegs sein musste, damit mich niemand fangen konnte. Doch die Tante Ursula holte mich das eine Mal zurück, ein hörbares Schmunzeln ging durch die Runde, und bat mich, es noch einmal laut und deutlich zu sagen. Der Text ward plötzlich laut und deutlich gesprochen, die wenigen Meter gelaufen und ich habe damals wohl zum ersten Mal gemerkt, dass Gut Ding manchmal eben Weile braucht. Auch wenn es sich um einen einfachen Satz handelte, so musste er doch verstanden werden. Denn vielleicht gab es ja unter den vielen Besuchern die einen oder anderen, die der Geschichte bis dahin noch nicht ganz folgen konnten.
Danach kam sozusagen mein Karrieretief. Die Volkschule absolvierte ich (bis auf einen Zweier in Werken) als herausragender Einserschüler, das Gymnasium stellte mir dagegen schon bald mehr Steine in den Weg. Aber am Weg zur Matura, als mich plötzlich alle innerschulischen Betätigungsfelder Spaß zu machen begannen, war ich auch Teil des Freifachs „Darstellendes Spiel“. Und unser motivierter Lehrer begann nach wenigen Wochen des Improvisierens davon zu sprechen, dass wir im zweiten Semester des damaligen Schuljahres das bisher ach so selten aufgeführte „Romeo und Julia“ eines gewissen William Shakespeare zu spielen. Und, nur zur Info: Ich habe mich um keine Rolle wirklich bemüht, aber mit meiner Ausstrahlung, aber vielleicht auch wegen meiner Statur war ich offenbar prädestiniert für die Rolle des Bruder Lorenzo. Der Stolz war natürlich wieder einmal unendlich groß, bis ich bemerkte, dass ich neben Romeo, Julia und der Amme offenbar den meisten Text zu lernen hatte.
Waren es im Kindergarten mal ein Satz und mal nur zwei Absätze, war man plötzlich offenbar wirklich auf mich angewiesen. Das Lernen fiel mir damals offenbar nicht nur in der Schule schwer, auch die behäbige Sprache des Herrn Shakespeare hatte es mir nicht wirklich angetan. Und so war ich während der unzähligen Proben und der Generalprobe eben jene Person, die den Text nur in Ansätzen ins Gedächtnis holen konnte. Doch die Plakate waren gedruckt und aufgehängt, die Karten für die Abendvorstellungen schon zu haben und die Schulklassen des eigenen und der umliegenden Gymnasien eingeladen. Es gab kein Zurück mehr.
Bei den ersten Aufführungen lernte ich in meinen Pausen zwischen den Szenen immer noch mit Bruder Johannes, meinem Klosterfreund und zugleich meiner damaligen besten Freundin (und heutigen „richtigen“ Freundin) den kommenden Text. Und vielfach half mir die Amme, indem sie meine Denkpausen mit ihrer Gelassenheit überspielte und wir so das Stück indirekt ein bisschen abkürzten. Dass eben diese Amme im Anschluss eine richtige Ausbildung zur Schauspielerin genoss, das hat sie sich damals in der einen Woche unserer Aufführungen redlich verdient.
Aber dann kam der eine Abend: nicht nur meine Eltern saßen im Publikum, auch ein quasi-professionelles Team aus zwei Leuten und einer Kamera bannte das Spektakel auf Band. Und während dieser Abendvorstellung, eben wieder in einer Szene mit der Amme, entglitt mir vollkommen der Text. Unser Lehrer hatte natürlich vorgesorgt und sogar eine Schülerin als Souffleuse platziert, zu 90 Prozent für mich. Doch das Rattern meines Gehirns, der Stress, die Hektik, ließ mich die geflüsterten Worte der Einsagerin ignorieren, ich schnappte nur noch die letzten paar Wörter auf und bat dann, vollkommen geistesabwesend, mit einem gut hörbarem „Was?“ um eine Wiederholung der Worte. Wieder einmal lockerte ich damit den gesamten Abend und die Tragik des Stücks ein kleines bisschen auf, das Publikum lachte, während wohl das restliche Ensemble ob meiner fehlenden Professionalität den Kopf schüttelte und die Kamera hielt während des gesamten Spektakels natürlich weiterhin auf meine kleine Nebenbühne, das Kloster, auf dem ich meinen wohl größten Fauxpas meiner schauspielerischen Karriere genoss.
Was ich damals gelernt habe? So manches. Wenn du einen Text zu lernen hast, egal wie lang er auch sein mag, lerne ihn verdammt noch mal. Aber so peinlich es mir in diesem Moment war, so gerne blicke ich heute auf darauf zurück. Ein weiteres Mal übrigens war ich noch einmal auf der Bühne, während der Mitternachtseinlage unseres Abschlussballes, als ich – unter dem Motto „Ali Baba und die 62 Maturanten“ – relativ spontan als Teppich einspringen musste und mit meinem Mund einen absterbenden Motor simulierte. Diese Geschichte ist aber in Wahrheit nicht wirklich erzählenswert, weil ich in dieser zweiminütigen Sequenz offenbar einen so perfekt armseligen Teppich darbot, dass ich (wohl das erste Mal) über jegliche Kritik vollkommen erhaben war. (Was ich dabei gelernt hab? Teppich kann wohl jeder.)
Bildquelle: Bild 1 – Bestimmte Rechte vorbehalten von dierk schaefer, Bild 3 – Bestimmte Rechte vorbehalten von matthewreid
Was soll ich schreiben … bitte mehr Texte, vom „Herrn Leitner“. Das liest sich wie das wahre Leben und doch ein wenig wie eine andere Welt.
Vielen, vielen lieben Dank! Die „Herr Leitner …“-Texte machen auch beim Schreiben unglaublich viel Spaß. Und somit kann ich versprechen, dass weitere Texte folgen werden. Aber bisher brauchte ich immer einen kleinen Anstoß, ein Thema. Mal sehen, worum es beim nächsten Mal gehen wird. 🙂
Hmm. „Herr Leitner fährt nach …“