Herr Leitner nimmt ungern Abschied

So wie die Geburt zum Leben gehört, gehört auch der Tod dazu. Der große Unterschied ist, dass man die Geburt nicht schon Dutzende Male im Umfeld beobachten kann, um dann auf das eigene Ereignis vorbereitet zu sein. Beim Tod hingegen, je nach Lebensstil, sieht man es: Den Verfall, den Prozess des Sterbens, das Warten. Oder das Aus-dem-Leben-gerissen-Werden, wie es manchmal eben auch vorkommt. Ich hasse den Tod, aber vielleicht auch nur, weil ich so scheiße im Abschied nehmen bin.

Ich hatte in meinem Leben zwei Hattricks. Leider hatten beide nichts mit Fußball zu tun. Im Jahr 1992, ich war gerade mal vier Jahre alt, musste ich Abschied von Menschen nehmen, die in meiner Erinnerung nur mehr einen Platz finden, weil sich Fotos darin eingebrannt haben. Mein Großvater väterlicherseits, meine Großtante und meine Urgroßtante. Sie alle verstarben in diesem einen Jahr, nur wenige Monate wahrscheinlich, bevor ich sie bewusst wahrnehmen hätte können. Sie waren die ersten vier Jahre da, dann waren sie weg. Abschied unmöglich. Denn dass sie nicht mehr kommen würden, habe ich schließlich viel zu spät kapiert.

Dann kehrte Ruhe ein im Hause Leitner. Zumindest für einige Zeit. Dabei denke ich auch an das Gesicht meinen Großvaters mütterlicherseits, der oft Worte formen wollte, es aber nach ein paar Schlaganfällen nicht mehr konnte. Ich habe mich lange an all seine Redensarten erinnert, die er zu mir und meiner Schwester immer sagte, wenn wir mit ihm im Auto unterwegs waren. Sein Verfall hat lange gedauert, und als es schließlich dann passierte, war ich doch überrascht. Bekam einen Anruf meiner Mutter, die die letzten Stunden bei ihm verbrachte. Ich dachtet, sie besuche nur meine Großeltern, so wie jede Woche. Dass sie sie aber zum Sterben besucht, dass passte irgendwie nicht in meinen Kopf. Ob sie mich und meine Schwester holen solle, zum Abschied nehmen, fragte sie mich. Und ich sagte nur nein, schrie meiner mich nervenden Schwester ins Gesicht, dass gerade unser Opa gestorben ist und rannte weinend ins Zimmer. Ich hätte ihn noch einmal sehen sollen, das wurde mir bald bewusst. Mir fehlte dieser Abschied. Mir fehlte es, sein entspanntes, fast lächelndes totes Gesicht zu sehen. Meine Mutter hat es mir oft so beschrieben: dass mit dem letzten Lebensatem all der Schmerz aus seinem Gesicht verschwand. Das hätte ich gerne gesehen.

Und dann kam Timi. Mein Neffe, der mit eineinhalb Jahren nicht mehr aufwachte. Mein einschneidenstes Erlebnis. Meine emotionalste Erinnerung. Bisher war es immer so: Alte Menschen sterben. Weil sie alt sind, weil sie Schlaganfälle hatten, Herzinfarkte oder bei einer Operation eine Infektion bekamen und daran verstarben. Aber kein Kind. Nein, verdammt. Aber das hatte in unserer Familie Tradition: meine Oma begrub ihren Sohn, als er im Alter von 19 Jahren bei einem Autounfall verstarb, meine Mama brachte meinen Bruder Florian tot zur Welt und meine Schwester eben Timi. Eine beschissene Tradition ist das, das sag ich euch.

Dieses eine Mal machte ich alles richtig: Ich war da. Ich war der „Fels in der Brandung“, die Ansprechperson für die Trauernden. Ich habe organisiert, bin über mich hinausgewachsen, habe mich um die Musik und die Fürbitten und meine Rede am Begräbnis gekümmert. Ich war da. So lange, bis ich einmal in der Kirche vor eine Schüssel Sand und dem Bild von Timi mit dutzenden brennenden Kerzen sah, die Menschen für Timi und uns angezündet haben und ich bemerkte: Es sind auch andere da. Zusammenbrach und minutenlang aus tiefstem Herzen weinte. Nie wieder habe ich so geweint. Aber eines war mir sofort klar: Ich musste ihn noch einmal sehen. Nicht so wie bei Opa, wo ich zu feige war. Ich musste mich verabschieden. Und ich habe diese Entscheidung bereut. Habe das Bild lange Zeit nicht mehr aus meinem Kopf bekommen, es überlagerte all die schönen Erinnerungen und erst ein paar Therapiestunden später habe ich es als das akzeptiert, was es war: Ein beschissener Abschluss eines viel zu kurzen Lebens. Eine furchtbare Erinnerung am Ende von tausenden wundervollen Erinnerungen.

Den zweiten Hattrick hatte ich dann schließlich 2009. Meine Großmutter väterlicherseits, eine Großtante und ein Großonkel starben innerhalb weniger Monate. Meine Oma sogar nur wenige Tage bevor ich, mit 21 Jahren, zum ersten Mal einen richtig schönen Freunde-Urlaub in Ungarn antrat. Ich habe mich nicht beim Begräbnis verabschiedet, sondern innerlich während der ersten paar Tagen der Reise. Auch meinen Freunden habe ich es eine zeitlang verschwiegen, bis es wohl einfach raus musste. Wir haben dann einen Schnaps auf meine Oma getrunken und es war genau richtig so.

Friedhof

Vor etwas mehr als einem Monat ist schließlich meine letzte Großtante verstorben. Ich habe nicht damit gerechnet, aber es ist wohl so ein Tod, den man sich als alter Mensch wünschen kann. Kein jahrelanger Pflegefall, sondern ein plötzliches Aus. Auch dieses Mal war ich nicht am Begräbnis, weil die Uni sich eine Intensivwoche für mich überlegt hat. Und vielleicht wäre es auch viel zu früh gewesen, um mich zu verabschieden. Vielleicht ist es mir ja auch bis jetzt noch gar nicht richtig bewusst. All die Wochen zuvor wollte ich sie noch einmal besuchen, aber jedes Mal wenn ich kurz Halt in meiner alten Heimat machte, war die Zeit dummerweise zu kostbar und so kam es nie zu abschließenden Besuch. Jetzt ist sie weg und es fühlt sich nicht gut an.

Wer als einzige von dieser Generation übrig geblieben ist, ist meine Oma mütterlicherseits. Mit ihren siebenundachtzig Jahren redet sie recht gerne vom Sterben. Dass es für uns alle ja besser wäre, wenn sie nicht mehr sei. Ich schüttle seit Jahren den Kopf. Einerseits, weil es für uns am besten ist, wenn sie noch lange Zeit ist. Andererseits aber sicher, weil ich definitiv noch nicht bereit bin, Abschied zu nehmen. Nicht von dieser Oma, die mich dank geografischer Nähe, mein ganzes Leben hindurch begleitet hat. Nicht von ihren Erzählungen rund um den Krieg und den politischen Diskussionen, bei denen wir erst in den vergangenen Jahren auf einen halbwegs grünen Zweig gekommen sind.

Ich habe Angst vor dem Tod. Ich habe Angst vor dem Abschied nehmen. Aber das ist wahrscheinlich das Wichtigste, was ich nach all diesen Quasi-Abschieden gelernt habe: Dass uns nicht alle Zeit der Welt bleibt. Dass wir alles daran setzen müssen, unsere Zeit richtig zu nutzen. Und immer wieder kommt mir die Geschichte in den Sinn, die ich für Timi geschrieben habe, zwei Wochen bevor er gestorben ist. „Verstehst du nicht? Die Zeit läuft. Tage werden zu Minuten, Stunden zu Jahre. Wir alle werden viel schneller älter. Und verlieren so viel von unserem Leben.“ Wenn ich zufrieden am Ende des Weges stehe und zurückblicken kann, dann fällt das mit dem Abschied vielleicht auch nicht mehr so schwer. Zumindest hoffe ich das. Und wünsche es mir, dass es all meinen Verstorbenen genau so gegangen ist.

Bildquelle:
Bild 1 – Jana / Pixabay,
Bild 2 – NamensnennungKeine kommerzielle Nutzung Bestimmte Rechte vorbehalten von Herr Olsen

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