„Er ist so ruhig.“ Irgendwas stimmt doch nicht, denken sie wahrscheinlich. All diese Menschen, die gerade dabei sind, sich ein Urteil zu fällen, über mich, dieser stille und ruhige junge Mann, der so zurückgezogen wirkt und so verletzlich. Weil ich „doch früher nicht so war“ sagen sie, fast hinter meinem Rücken, aber doch so penetrant leise hörbar, dass ich es unbedingt mitbekommen muss. Sie, die trotz jahrzehntelangem Studium des Menschens noch keine einzige Prüfung erfolgreich abgelegt haben, sie diagnostizieren wild herum, weil ein Mensch in ihrem Umfeld anders agiert als sonst. Aber gibt es das denn? Dieses „sonst“? Oder sind das stets nur Wunschgedanken, ist dieser verschönte Blick in die Vergangenheit, dieses dubiose „sonst“ nicht einfach nur eine Lüge, so wie es all diese Menschen auch sind? So wie ich es doch auch bin?
Sind wir nicht alle nur Lügen? Und haben uns nur aufgrund der flächendeckenden Verlogenheit zur Wahrheit aufgehübscht? Weil Minus mal Minus doch Plus ergibt, und man aus allem Negativen stets das Positive herausziehen will. Alles kotzt mich an, oder nur die Menschen, oder ich selbst. Ich weiß es nicht. Und selbst wenn ich ruhiger geworden bin, dann ja auch nur, um mich von allem etwas zurückzuziehen, um etwas Abstand zu gewinnen, etwas Distanz zu allem.
„Weißt du, was ich am meisten mag?“, fragt sie. Ich schüttle den Kopf, gehe die 238 möglichen Antworten rasch im Gedächtnis durch, komme aber nicht so schnell auf die plausibelste. „Wenn wir nebeneinander liegen, uns berühren und manchmal einfach nur nichts sagen. Wenn wir schweigen, weil nichts gesagt werden muss. Wenn es ruhig ist, und wir manchmal sogar kurz die Luft anhalten, um der Stille noch mehr Platz einzuräumen.“ Und ich küsse sie. Weil sie eben nicht so ist. So wie all die anderen.