Beginnen wir mit einer gewollt verkürzten Darstellung der Faktion: Herr Leitner ist ein ängstlicher Mensch. Aber Angst ist ja nicht immer etwas Schlechtes, manchmal zollt man einer Gefahr ihren notwendigen Respekt. Doch viel spannender als die Ängste selbst ist die Entstehungsgeschichte ebendieser. Und ich kann von Glück sprechen, dass nicht jede schreckliche Erfahrung in einer Phobie endet.
Ansonsten hätte ich wohl große Angst vor Weinbergschnecken. Damals, Anfang der Neunziger, saß ich windeltragend in unserem Garten, als sich in einem unachtsamen Augenblick (wahrscheinlich innerhalb der Dauer von einer Stunde) eine Weinbergschnecke auf meinem kleinen Turnschuh bequem gemacht hatte. Das Resultat war ein Schreikrampf unbekannten Ausmaßes, der auch meine herbeieilende Mutter vor ein anfängliches Rätsel stellte. Heute hingegen bin ich sogar so freundlich, eine Weinbergschnecke mitten am Wanderweg auf die gewünschte Seite zu hieven.
Aber dann gibt es da dann auch noch die richtigen Ängste. Eine davon ist es, an mich gestellte Erwartungen nicht zu erfüllen, oder wie ich sage: zu scheitern. Der Druck war groß, als ich relativ locker und erfolgreich (mit nur einem „Gut“ in vier Jahren Grundschule, und das auch nur bei dieser blöden Handarbeitslehrerin) ins Gymnasium umschulte und plötzlich vor viel größeren Herausforderungen stand. Als eine Themenverfehlung (meine Fantasie war schon damals grenzenlos) in Deutsch eine gutgemeinte 4 wurde, war das Leben plötzlich nicht mehr lebenswert. Der Misserfolg in der Schule brach dadurch nicht ab, verstärkte sich, ich stumpfte ab, kämpfte mich aber doch durch alle Endjahresprüfungen, Nachprüfungen oder Maturawiederholungsprüfungen. Doch vor allem im vergangenen Jahr kam diese Angst wieder hervor: Was, wenn alles Augen nur auf mich blicken, und ich der Erwartung nicht Stand halten kann? Das Doofe daran: Diese Angst, sie bremst. Sie macht mich oftmals bewegungslos, was ja fast zwangsläufig in einem Scheitern enden muss. Und das Famose daran: Es sind oft nicht die fremden Erwartungen, die ich nicht schaffe zu erfüllen, sondern die eigenen, viel zu hochgesteckten. Und selbst nach so vielen Jahren lerne ich nicht daraus.
Eine Angst, derer mir erst mit zehn oder elf so richtig bewusst wurde, ist jene vor der Dunkelheit. Damals, bei einem Zwei-Tages-Ausflug in der ersten Klasse Gymnasium, auf einem Berg, inklusive Indianerzelt und zwei sich betrinkenden Professoren. Als wir bei unserem Waldspaziergang, weil wir ja (der Schulorganisation sei Dank) eine reine Burschenklasse geworden sind, so mutig und männlich sein mussten, für kurze Zeit alle Taschenlampen ausschalten wussten, war sie plötzlich da. Die Angst, nicht wieder hinauszufinden, der Schwindel, dieses mulmige Gefühl. Mulmige Gefühle sind ja sowieso Gradmesser für die Stärke der Angst. Als ich dann im Nachhinein über diesen Waldmoment reflektiert habe, (es überrascht mich selbst, dass ich das damals schon konnte) erkannte ich, dass die Dunkelheit schon seit jeher etwas Komisches hatte. Überwand ich das Stockwerk vom Wohnzimmer hoch zu meinem Kinderzimmer ohne Betätigung des Lichtschalters, so hörte ich schon immer komische Geräusche, dachte an Ungeheuer und grässliche Gestalten. Was aber wohl in Wahrheit dahinter steckte, war das Gefühl, allein zu sein. Allein in einer Welt, die ich nicht durchblicken kann. Der Dunkelheit wegen.
Das Alleinsein ist ja auch so eine Sache. Das hat, so diagnostiziere ich, oft etwas mit einer depressiven Phase zu tun. Ich war zwischen meiner allerersten Beziehung und meiner jetzigen Beziehung eine beträchtliche Zeit lang Single. Manchmal redete ich mir ein, einer dieser „glücklichen Single“ zu sein, aber es gab immer wieder diese Momente, wo ich bemerkte, dass ich mir das alles nur vorlog. Und in dieser Zeit des Singlelebens waren die furchtbarsten Abende jene, die ich mit besten und zweitbesten Freunden verbrachte und ich mich trotzdem verdammt einsam fühlte. Ich war damals in einem Loch gefangen, kam da nur mehr schwer hinaus, aber dieses Gefühl macht einen kaputt. Heute lebe ich seit mehr als drei Jahren in einer Beziehung, wohne mit meinem besten Freund, seiner und eben auch meiner Freundin in einer WG, das Glück war mir zuletzt sozusagen hold, aber diese Momente gibt es manchmal immer noch. Worin begründet sich diese Angst vor dem Alleinsein? Weil es ja einen Grund geben muss, warum man allein ist? Weil es dieses furchtbare Bild im Kopf gibt, wo man sich vorstellt, dass niemand um einen trauern würde, wenn man beschließt zu sterben? Oder weil der Tod einen bloß nicht alleine erwischen soll?
Da kämen wir zur nächsten Angst. Der Tod ist aber auch ein Arschloch. Meine eigene Geschichte hat da ihr Übriges dazugetan. Da gibt es den Onkel, den ich nie kennenlernen durfte, dem ich mich aber aus irgendeinem komischen Grund oft nahe fühle. Oder meinen Bruder, der seine Geburt knapp nicht mehr erleben konnte. Oder mein Neffe, der mit eineinhalb Jahren plötzlich verstarb. Oder die Kombo aus Großtante, Großonkel und Oma, die innerhalb weniger Monate das Zeitliche segneten. Der Tod nervt und ich habe Angst davor. Angst, dass jemand, den ich liebe, plötzlich stirbt. Aber auch, wenn ich eine Straße überquere läuft in meinem inneren Auge immer wieder die Szene ab, dass ein Auto oder gar ein LKW mit überhöhter Geschwindigkeit herbeirast und mich übersieht. So abwegig ist es ja nicht. Was mich an dieser Angst nervt? Der dauerhafte Blick auf die Vergänglichkeit. Und dass sie ständig da ist. Immerwährend. Ohne Pause.
Und dann gibt es noch ein kleines bisschen Höhenangst, die vermutlich daraus resultiert, dass ich mal als Kind von einem Holzstoß hinab in die Wiese sprang, hinein in einen Haufen Schafscheiße. Erdachte ich mich vorher nach als Superheld, der überall hinspringen konnte, war ich plötzlich ohne Cape und dafür mit Scheiße am Fuß unterwegs. Oder das bisschen Klaustrophobie, das ich das erste Mal bemerkte, als meine Schwester, meine Mama und ich in einem Lift im Krankenhaus steckengeblieben sind. Für mich nur bedingt lustig, machte sich vor allem meine Schwester einen Spaß daraus, über die kommenden Tage in dieser metallenen Box zu plaudern. Aber diese beiden Ängste stören mich nicht so, die schränken mich ja nur bedingt ein.
Doch diese Versagensangst, diese Angst vor der Dunkelheit und dem Alleinsein und die Angst vor dem Tod. Die bremsen mich, die halten mich fest, die bringen mich dazu, Dinge nicht zu tun. Manchmal überlege ich mir, wo ich wäre, wenn diese Ängste nicht bestehen würden. Was anders wäre. Antworten dazu finde ich nicht wirklich, aber man darf sich ja immer Gedanken machen. Wenigstens davor habe ich keine Angst.
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