Gezeichnet.

Sie hat ihn schon seit Tagen nicht mehr gesehen.

An jedem ihrer Arbeitstage trafen sich die beiden auf dieser Bank im Park, nur wenige hundert Meter von ihrem Arbeitsplatz entfernt. Dann saßen sie da, aßen und redeten. Seit zwei Wochen schon isst sie alleine und schweigt. Sie macht sich Sorgen. Und mit jedem Mittag ohne ihm wird die Angst immer größer.

Sie haben sich vor einem Jahr kennengelernt, sie weiß es noch ganz genau. Er hat sie damals angesprochen, hat tröstend auf sie eingeredet, als es der Vorgesetzte, die Welt und das ganze Leben nicht gut mit ihr meinten. Er hat die richtigen Worte gefunden und viel zu lange ihren Erzählungen gelauscht. Es wunderte sie, dass er auch am Tag danach wieder hier war. Offenbar genoss er es, mit ihr zu reden bzw. jemanden zum Reden zu haben. Er selber war eher einer von der stillen Sorte.

Er arbeite hier nicht in der Nähe, erklärte er ihr, aber er male. Nach ein paar Wochen gemeinsamer Mittagspause zeigte er ihr schließlich zum ersten Mal den zerknitterten, unlinierten A5-Block, in dem er mit Bleistift Szenen aus anderen Leben verewigte. "Lieber zeichne ich das Leben, als vom Leben gezeichnet zu sein", sagte er und musste dabei laut auflachen. Wenn man aber genau hinhörte, so wie sie es tat, konnte man in diesem Lachen auch einen großen Schmerz heraushören. Er war ein herausragender Zeichner, ein visueller Schriftführer des Alltags. Sie vermisst seine Zeichnungen.

Ob er denn irgendwo seine Bilder auch präsentiere, hatte sie ihn einmal gefragt. "Nein, nein", schüttelt er den Kopf, "meine einzige Ausstellung ermögliche ich nur dir auf dieser Parkbank". So viel Talent, dachte sie, und nur sie bekomme es zu Gesicht. Sie wollte ihm helfen, wollte ihm zeigen, wie begnadet er zeichnet, wollte ihm zu Ruhm verhelfen, aber sie sagte nur "Du zeichnest wunderschön." Seine Augen leuchteten.

"Das hat mir geholfen", erklärte er ihr einmal, "um über das Schweigen hinwegzukommen." Er hatte sonst niemanden zum Reden, denkt sie sich. Denkt darüber nach, wie schlimm es denn wäre, wenn sie keinem von ihrem Stress in der Arbeit, zuhause oder im Morgenstau erzählen könnte. Sie hatte die Gespräche mit den Kollegen an der Kaffeemaschine, mit dem Freund zuhause oder im wöchentlichen Telefonat mit ihrer Mutter. Er aber … er hatte nur sie.

Es dauerte, bis auch er sich öffnete. "Ich rede ja nicht so gern", begann er seine erste Erzählung, nur um dann langsam, aber beharrlich aus seinem Leben zu erzählen. Dass er allein sei, schon seit Jahren. Dass das Leben auf der Straße einen härter macht, er aber Angst vor dieser Härte hat. Dass er oft im Dunklen seine Erinnerungen skizziert, nur um ihnen im Morgengrauen Konturen zu geben. Dass es schon einmal schön war für ihn, er aber irgendwann gefallen ist.

"Nach jedem Fallen muss man wieder aufstehen", sagte sie und bereute im selben Augenblick ihre Worte. Manchmal fällt man zu tief, sagte er, manchmal ist es nicht nur eine Stufe, sondern ein Brunnenboden. Und wenn man lange genug keinen Ausweg findet, richtet man es sich dort unten wohnlich ein. So gut es eben geht. Er raucht zu viel, um das Hungergefühl abzutöten, trinkt zu viel Schnaps, um der Kälte zu entfliehen. Und nimmt Heroin, um für eine kurze Zeit jemand anderer zu sein.

"Und weißt du", sagte er einmal, "das ist das Fatale. Man beschwert sich damit nur selbst und bei jeder Möglichkeit eines Aufstiegs zieht eine unsichtbare Hand mich wieder nach unten." Das mit den Zigaretten und dem Alkohol verstand sie ja, nur das Heroin überraschte sie. "Kennst du das nicht," fragte er sie, "dass du mal Ausbrechen willst, einen Tapetenwechsel brauchst? Und dann fährst du auf Urlaub oder gehst in ein Museum oder triffst dich mit Freunden? All das kann ich aber nicht. Ich kann hier unten nirgendwo hin, hier gefallen mir keine Tapeten. Und selbst das Träumen hab ich über die Jahre verlernt. Das gelingt mir nur im Rausch."

Sie hat ihn schon seit Tagen nicht mehr gesehen.

Und macht sich Sorgen, dass er nicht mehr wiederkommen wird. Weil er das Träumen wieder gelernt hat, weil er vielleicht selber in seiner Traumwelt aufgegangen ist, weil er eine Reise antrat, für die es kein Zurück mehr gibt. Sie will nicht daran denken, doch die Stunde ist vorüber. Traurig legt sie die Hälfte ihres Schinken-Käse-Weckerls auf die Parkbank, blickt sich noch einmal um und geht.

Er hat schon seit Tagen nicht mehr gezeichnet.

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