Irgendwo dazwischen.

Gerade noch schaffe ich es mit einem Sprung in den Bus. Die Tür hinter mir schließt sich und er setzt sich wieder in Bewegung. Es ist etwas voll hier, wie immer um diese Uhrzeit. Deshalb bleibe ich bei der Tür stehen, halte mich fest und atme erstmal durch. Willkommen in diesem Mikrokosmos.

Dieser alte Mann, ganz vorne, mit dem stoppeligen, faltigen Gesicht, sitzt da jeden Tag um diese Uhrzeit mit seiner Frau. Sie blickt meist nur aus dem Fenster, während er ihr heute wieder einmal die Geschichte zu diesem einen, diesem besonderen Gebäude erzählt. Es ist nicht besonders, ich habe da etwas recherchiert, es ist ein ganz einfaches Gebäude und doch erzählt er es immer wieder. Und seine Frau hat ihm noch nie gesagt, dass sie die Geschichte bereits kennt, sie nickt immer, sie nickt, als würde sie all das gerade zum ersten Mal hören. Eine Station später greift sie ihm auf die Schulter, ein Zeichen zum Aussteigen und dann verschwinden sie wieder bis zum kommenden Tag. Bis zur nächsten, immergleichen Geschichte.

Im hinteren Teil des Busses sitzen zwei Fremde nebeneinander. Ich erkenne das sofort. Der junge Mann und die junge Frau, die fast krampfhaft versuchen, keine Berührung zustande kommen zu lassen. Weil das bedeuten würde, hier plötzlich nicht mehr anonym zu sein. Man müsste sich vielleicht sogar in die Augen sehen und ‚Tschuldigung‘ murmeln, irgendetwas, einfach nur um dieser peinlichen, unabsichtlichen Berührung eine Absicht nachzusetzen.

Der Fahrer des Busses testet gerade alle fünf Meter entweder seine Bremsen oder die Standhaftigkeit seiner Passagiere aus. Ich halte mich nun auch mit der zweiten Hand fest, Menschen steigen aus, etwas mehr Menschen steigen wieder zu.

Zum Beispiel die Mutter mit dem schreienden Baby, das eigentlich nicht mehr schreit, sondern in Wahrheit nur mehr brüllt. Dazu kommen die Blicke der anderen Fahrgäste, die das Baby nicht ruhiger und die Mutter zusehends nervös machen. Sie wird es nicht mehr viele Stationen mitmachen, selbst wenn sie noch weiter müsste; sie wird aussteigen und durchatmen und das Kind beruhigen und wahrscheinlich sogar ein paar Tränen in den Augen haben, wegen der Blicke und der Hilflosigkeit und noch einmal wegen all den verdammten Blicken.

Und Marianne. Marianne ist so eine Person, die gefühlt immer in diesem Bus sitzt. Immer die aktuelle Gratiszeitung in der Hand, zusammengefaltet, sodass sie nur das Sudoku des Tages lesen kann. Und da sitzt sie und löst und löst und wenn man sich neben sie setzt, blickt sie einen nach ungefähr einer Minute an und sagt „Hallo. Ich bin Marianne.“ Dann schaut sie wieder runter, zu ihrer gefalteten Zeitung, hört vielleicht noch den Namen ihres Sitznachbars, aber überlegt doch bereits wieder, ob der Siebener hier an der richtigen Stelle ist.

Ich fahre gerne mit dem Bus. Die Passagiere eines Busses wechseln teilweise innerhalb weniger Minuten. Wenn man da, so wie ich, länger hier unterwegs ist, also jeden Tag, dann lernt man sie rasch alle kennen. Die Gestalten der Stadt, die Unverkennbaren, die Klassiker einer Busfahrt. Ich stehe noch immer, obwohl der Bus gerade etwas leerer ist und ein Sitzplatz keine Mangelware mehr. Als ich mich aber erneut umsehe, sehe ich plötzlich sie.

Ich kenne sie nicht, kenne ihre Geschichte nicht, weiß nicht einmal ihren Namen, aber ich sehe, dass sie weint. Ganz leise, niemand hört es, vielleicht ein leises Schluchzen manchmal, aber das geht unter im Lärm dieses Busses. Sie sieht entweder aus dem Fenster, mit ihren glasigen Augen, oder auf das Taschentuch in ihrer Hand. Es ist ihr ganz eigener Nanokosmos in meinem Mikrokosmos. Ich sehe sie an, erwarte fast, dass sie zu mir hersieht und es sich wie eine peinliche Berührung zwischen uns anfühlt, aber sie sieht mich einfach nicht. Sie spürt meinen Blick nicht. Sie weint, ganz leise, und man merkt, dass auf ihr der unsägliche Weltschmerz liegt, dass sie aufgegeben hat, wenn auch nur für diesen einen Moment.

Am liebsten würde ich zu ihr hingehen, mich ihr gegenüber setzen, um zu fragen, ob ich ihr irgendwie helfen kann. Oder auch einfach nur um zu zeigen, dass sie nicht allein ist. Aber ich bleibe stehen, an meiner Bustür, immer bereit für den Absprung, während sie leise vor sich hinschluchzt.

Solche Weltschmerztage kenne ich auch. Wenn man am Morgen erfahren hat, dass Oma nicht mehr aufwacht, aber noch den Arbeitstag hinter sich bringen muss. Man ist taub, betäubt, man ist sowas von neben der Spur, spürt einfach gar nichts mehr. Schreit lautlos irgendwelche Worte in das Vakuum Welt. Aber es muss kein Tod sein, es kann auch eine Trennung sein oder einfach nur eine Abfuhr, wenn man sich etwas mehr erwartet hat als der andere. Dann sitzt man da, lässt Coldplay laufen, finde die Welt ganz grundsätzlich scheiße und hasst nicht nur sich, sondern die ganze Menschheit. Ich kenne das.

Sie hat mich gesehen. Ich sehe natürlich weg. Ich will ja nicht starren. Sie soll nur bemerken, dass sie mir aufgefallen ist. Mehr nicht. Ich bin gespannt, wie lange sie noch mitfährt. Meine Station ist die letzte vor der Endstation, es ist nicht mehr weit. Aber sie bleibt. Sie bewegt sich nicht, die drei Plätze um sie herum bleiben frei, niemand will diese Luftblase mutwillig zerstören. Die automatische Ankündigungsstimme sagt meine Station voraus. Ich blicke sie wieder an, sie bewegt sich kaum. Die Tür öffnet sich, die Tür schließt sich wieder. Ich atme tief durch. Der Bus fährt wieder los.

Ich bin nicht ausgestiegen. Fährt sie bis zur Endstation? Und was wenn nicht? Fährt sie einfach ein paar Runden Bus um der Außenwelt zu entkommen? Ich kann es ihr nicht verübeln und habe schon eindeutig schlechtere Orte dafür gewählt. Der Bus fährt in die Endstation ein, alle steigen aus. Nur sie nicht. Und ich. Der Busfahrer will uns noch einmal darauf hinweisen, dass hier alle aussteigen müssen, aber offenbar hat er es bemerkt. Hier wird keiner mehr aussteigen, nicht in dieser Runde, vielleicht in der nächsten. Ich setze mich zu ihr. „Ist hier noch frei?“, frage ich, in einem vollkommen leeren Bus, und sie nickt nur. Er fährt wieder los. Wir sprechen nicht. Wir sehen uns nicht an. Das Schluchzen wird weniger.

Als der Bus erneut bei meiner eigentlichen Einstiegsstelle vorbeigefahren ist, beginne ich plötzlich zu erzählen. „Weißt du, dieses Gebäude, ja, genau dieses, das ist ganz besonders. Es war nämlich damals das einzige Haus im Zweiten Weltkrieg, das nicht weggebombt wurde, überall war Schutt, nur dieses eine Haus blieb stehen.“ Sie blickt mich etwas verstört an und bricht plötzlich in Lachen aus: „Das ist doch Blödsinn.“
– „Warum?“
„Weil ich selber noch ganz klein war, als das Haus gebaut wurde.“
Ich schmunzle. „Weiß ich doch.“
„Und warum erzählst du es mir dann?“
– „Naja, es hat doch funktioniert?“, sage ich.
„Was?“, fragt sie.

Doch gerade in dem Moment geht die Tür auf und ich hüpfe aus meinem Sitz, verlasse zuerst ihren etwas größer gewordenen Nanokosmos, um dann auch noch aus meinem eigenen Mikrokosmos zu flüchten. Sie blickt mir verwirrt nach, aber ich glaube sie versteht.

In fünf Minuten kommt der nächste Bus. Ich warte. Ich werde zu spät kommen, aber, ganz ehrlich, das ist schon okay.

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