Dieser Text erscheint in „Tausend Tode schreiben“ als Text Nr. 302.
Du wärest in diesem Jahr acht Jahre alt geworden. Wärest in die dritte Klasse Volkschule gegangen und wärest wahrscheinlich Tag für Tag voller Freude von der Schule nach Hause gekommen. Du warst damals schon wissbegierig, hast alles untersucht, warst unaufhaltsam in deiner Suche nach neuen Entdeckungen. Du hättest die Schule geliebt, so wie ich damals. Und du wärest ein hübscher Junge, wahrscheinlich einer der kleineren in deiner Klasse, und mit deinen blonden Haaren und deinem breiten Lächeln wärest du von deiner Lehrerin gemocht worden. Und wenn du dann einmal bei uns wärest, hätte ich dir so vieles erzählt. Hätte dir Geschichten vorgelesen oder hätte dir gelauscht, wie du mir die Geschichten aus deinem Lesebuch vorliest. Ich wäre stolz auf dich, wäre der stolzeste Onkel auf der ganzen Welt, hätte überall mit dir geprahlt, dir so viele gezeigt, hätte dir diese unerklärliche Welt ein kleines bisschen verständlicher gemacht. So vieles hatte ich vor, so große Pläne hatte ich, so sehr schmerzt deshalb auch diese Gegenwart manchmal.
Vor fast sieben Jahren bist du gegangen. Hast mir den Boden unter den Füßen weggezogen, für so lange Zeit. Selbst heute ist es noch unerklärlich, wie all das passieren konnte, wie schnell all das ging. Von einem gesunden jungen Kind zu einem Kind ohne Lebensatem innerhalb weniger Tage. Ich habe mir Fragen gestellt, habe mir selbst auch Vorwürfe gemacht, habe mir Verantwortung auferlegt, unter der ich fast zerbrochen wäre. Und habe wahrscheinlich seither fast jeden Tag an dich gedacht. Doch es hat sich geändert. Von all den Gedanken des Was-wäre-wenn habe ich mich irgendwann einmal lösen können, um zu akzeptieren, was ist. Um für die Zeit zu danken, die du bei uns warst, uns unser Leben so sehr erhellt hast. Es hat jahrelang gedauert, zahlreiche Tränen gefordert, aber jetzt ist es gut. So gut, wie es eben sein kann, so hoffnungsvoll, wie man nach all den Jahren plötzlich wieder wird. Und ich blicke wieder nach vorne, weißt du. Deine Mutter möchte wieder ein Kind bekommen und ich möchte da sein, möchte Schutz sein, wie ich es für dich auch immer war. Würde wieder eine Stunde lang tanzen wie ein Hampelmann, um aus einem Weinen wieder das Lachen eines Kindes zu machen.
Es geht mir gut, weißt du?
Bildquelle: Bellezza87 / Pixabay
Ich habe schon lange nicht mehr durchgehend Gänsehaut gehabt, vorallem am ganzen Körper, beim lesen eines Textes. Und auch dann nochmal beim zweiten Mal lesen. Danke dafür! 🙂
Ich sage: Vielen lieben Dank! (Und zur Info: Ich hatte bei einigen Zeilen, die ich da schrieb, auch eine Gänsehaut. Irgendwie schräg wenn das Leben und die Vergangenheit und die Erinnerungen Gänsehaut erzeugen.)