Im Mairegen wächst man.

Es ist schon kurz nach zwei, seit ein paar Stunden ist die Mariahilfer Straße keine Begegnungszone mehr. Niemand begegnet sich mehr hier, nur vereinzelt tauchen sie auf, die Menschen auf der Suche nach einem Ziel und jene, die die Suche längst aufgegeben haben. Wir beide halten uns an den Händen, spazieren langsam verliebt vor uns hin, als plötzlich die ersten Tropfen auf unseren Schädeldecken einschlagen.

Es dauert nur Sekunden und du ziehst mich in die Mitte der Begegnungszone, ziehst mich hinaus in das Zentrum und lachst. „Im Mairegen wächst man“, sagst du und lässt meine Hand nicht mehr los. Wir suchen keine Schirme und wühlen nicht nach unseren Jacken sondern erwarten den Guss auf unsere T-Shirts und Sneakersocken.

Ich wollte immer schon 1 Meter 80 werden, denk ich mir. Das war damals so ein Traum von mir, damals als ich noch glaubte, dass man sich die endgültige Körpergröße erträumen kann. Es hat schließlich nicht gereicht. Nur klitzekleine sechs Zentimeter haben mir schließlich gefehlt.

Du lachst, während dicke Tropfen beginnen auf das Asphalt aufprallen und eine Tanzchoreografie vollführen, die uns einfach nicht gelingen mag. Wir halten uns weiter an den Händen und ich verhalte mich ziemlich taktlos, während du mich weiter führst.

In Wahrheit habe ich niemals zu träumen aufgehört, auch nicht hinsichtlich meiner Größe. Selbst mit neunundzwanzig Jahren könnte es ja noch passieren, dass ich eines Tages aufwache und mir der Pyjama nur mehr bis zum Schienbein geht.

Der Regen benutzt unsere Haare, und als unsere Kopfhaut nicht mehr Wasser aufnehmen kann, laufen kleine Flüsse unser Gesicht herab. Unsere T-Shirts kleben an unseren Körpern, aber sie passen eben immer noch wie angegossen. Wir wachsen nicht heraus, wachsen nicht wirklich, wir werden einfach nur nass und der warme Frühlingsregen wird langsam zur kalten Hülle der Eisheiligen.

Immer noch tanzen wir, also du tanzt und ich wippe wortlos auf und ab, wir tanzen in diesem Regen, bis er schließlich sein Ende findet. Du küsst mich, es ist erst unser dritter Kuss, ich habe mitgezählt, du küsst mich also und ich frage mich, warum ich immer noch träume.

Vielleicht sind es nicht die 1 Meter 80, auf die ich schiele, vielleicht ist all das nur eine Ausrede, vielleicht will ich es einfach nur einmal schaffen, in diese Welt hineinzupassen, nicht tollpatschig herumzufallen, immer mit Luft nach oben. Vielleicht will ich einfach nur so groß sein, wie ich mich fühle. Oder so groß fühlen, wie ich bin. Ich weiß es nicht.

„Wir wachsen nicht mehr“, sage ich zu dir, als ich das nassklebrige T-Shirt vom Körper wegziehe. „Wir wachsen einfach nicht mehr.“ Und mit diesem Satz beginnen wir plötzlich auseinanderzuwachsen, selbst Kuss Nummer 4 und 10 und 23 helfen uns nicht mehr. Wir wachsen aneinander vorbei und all das nur wegen diesem einen wunderbaren Maitanz.

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