Wenn die Forschung es schaffen würde, Krebs und unzählige andere Krankheiten zu heilen – welchen Preis darf eine Gesellschaft dafür bezahlen?
Zu Beginn wirkt dieses Großbritannien, von welchem Kathy H. in diesem Buch erzählt, nicht wirklich anders. Wenn sie über Hailsham spricht, dieser Einrichtung, dieser Schule, in der Tommy, Ruth und sie aufgewachsen sind und einander lieb gewonnen haben. Doch dieser Schule sind sie schon lange entwachsen und Kathy blickt zurück. Mit jedem Sprung in die Vergangenheit erkennt man, dass die Vergangenen und Gegenwart, in der Kathy aufgewachsen ist und heute lebt eine völlig andere ist als die unsere. Sie und ihre Freunde, und in ganz Großbritannien hunderte oder tausende Andere wurden für einen Zweck geschaffen: um als Organspender Menschenleben retten zu können. Sie sind Ersatzteillager mit Ablaufdatum, sie sind geschaffen, um anderen ein besseres Leben zu ermöglichen und selber daran zugrunde zu gehen.
Es war relativ kurz nach dem Krieg, in den fünfziger Jahren: Die Forschung machte derart starke Fortschritte beim Klonen und sah darin schließlich die Lösung zahlreicher Gesundheitsprobleme. Doch die Kinder in Hailsham haben es nie wirklich erfahren, immer nur Bruchstücke, immer nur kleine Informationen, die erst im Nachhinein als deutliche Hinweise erkennbar waren – sie haben nie wirklich erfahren, wofür sie geschaffen wurden und wie beschränkt ihre Zeit sein würde. Doch zwischen dieser – die Kehle manchmal zuschnürenden – Geschichte tauchen auch die Leben von Tommy, Ruth und Kathy auf. Ihr Heranwachsen, ihre Streits, ihre Gedanken, ihre Hoffnungen. Und die Liebe, die sie vielleicht doch noch zu retten vermag.
Kazu Ishiguro
geboren 1954 in Nagasaki, Japan, lebt in Großbritannien
Weitere Werke:
- The Remains of the Day
- When We Were Orphans
Eigentlich mache ich das wirklich selten: Dass ich zuerst einen Film sehe und mir dann schließlich das Buch dazu kaufe. Bei Never Let Me Go (bzw.: „Alles, was sie geben mussten“) war das jedoch genau der Fall. Die Verfilmung, mit Carey Mulligan als Kathy, Keira Knightley als Ruth und Andrew Garfield als Tommy, hat mich vor Jahren gefesselt und mich seither nie völlig losgelassen. Wohl auch, weil die gesamte Thematik, die Frage nach der Ethik, all das von dieser Geschichte aufgeworfen wird. Ist es ein Fortschritt in der Medizin, wenn man Menschen erst erschaffen muss, um sich dann an ihren Organen zu bedienen? Oder trennt man dabei wieder in lebenswerte und lebensunwerte Menschen? Der Film ist großartig, die Schauspieler ebenso und es übernimmt sogar den Ton und die Stimmung des Buches, was mich sehr überrascht hat.
Ishiguro schafft es, die Geschichte von Kathy, Tommy und Ruth in einer wundervollen Sprache zu erzählen, ohne Kitsch, ohne Pathos. Ich war die ganze Zeit während des Lesens nachdenklich: Macht sich Gedanken, warum sie nicht einfach ausbrechen, warum sie sich ihrem vorbestimmten Weg hingeben (und kann es wohl nur erahnen). Und fragte mich: Wie weit darf man denn nun gehen? Was ist ethisch noch vertretbar? Dabei taucht natürlich noch die Frage nach der Stammzellenforschung und den Chimären auf, einem Punkt, an dem unsere Forschung heutzutage steht. Ein somit hochaktuelles Werk in mitreißender Sprache erzählt.
„Your lives are set out for you. You’ll become adults, then before you’re old, before you’re even middle-aged, you’ll start to donate your vital organs. That’s what each of you was created to do. […] You were brought into this world for a purpose, and your futures, all of them have been decided.“
Es ist keine leichte Kost, die einem Kazuo Ishiguro da vorsetzt: Never let me go ist ein verstörender, berührender und aufwühlender Roman, wie man ihn selten in die Hände bekommt. Die Geschichte der drei Charaktere, die Geschichte von Kathys Erfahrungen und Eindrücke. Sie macht einen traurig, weil man in Wahrheit das Ende schon kennt. Diese depressive Stimmung, sie schwebt die ganze Zeit über dem Buch (und auch über dem Film), aber gerade das macht es auch aus.
Kazuo Ishiguro
Never Let Me Go (Alles, was wir geben mussten)
Faber and Faber / btb
Preis – englische Ausgabe: 21,28 Euro (Hardcover), 7,90 Euro (Taschenbuch), 6,24 Euro (eBook), deutsche Ausgabe: 9,99 Euro (Taschenbuch) (Info zu Partnerlinks)
274 Seiten
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