„Die wahre Geschichte eines Mannes, der seinen Vater getötet hat“ lautet der Untertitel dieses Buches.
Der große deutsche Philosoph Peter Sloterdijk sieht es. Sieht, welch ein herausragender junger Mensch seine Vorlesungen besucht, sieht, was für ein Genie in diesem Herrn Illigen steckt. Mathias spürt das, und er will ihn beeindrucken, will in seine Riege aufgenommen werden, und spürt, dass es eine Verbundenheit gibt. Doch Sloterdijk lässt ihn überwachen, weiß alles über ihn, aus seiner frühsten Kindheit, und testet ihn. Er muss alles durchplanen, der kranke Mist macht ihn verrückt. Und irgendwann erkennt er, dass nicht Sloterdijk der Böse ist, sondern nur eine Nebenhandlung in einer riesigen Verschwörung. Von Satanisten, Buddhisten und Nazis inszeniert, die dauernde Überwachung, der Beginn der Apokalypse und nur Mathias kann die Welt retten. Mathias Illigen ist der Auserwählte.
Mathias Illigen
geboren 1974 in Bregenz
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Interview mit Illigen auf VICE.com
Was wie eine verrückte Geschichte aus dem Bereich Fiction klingt, war für Mathias Illigen Realität. Jene Realität, die mehr und mehr von ihm Besitz ergreift und den richtigen Blick auf die Dinge immer weiter verschleiert. Niemand will ihn verstehen, jeder wendet sich gegen ihn, jeder ist selbst in die Verschwörung involviert. Und irgendwann, als die Bilder schlimmer, die Stimme stärker werden, fährt er zu seinem Vater. Dem Anführer dieses Albtraums, der Mensch, der seine Mutter mit Krebs infiziert hatte. Erschlägt ihn mit einem Bügeleisen und erstickt ihn anschließend mit einem Plastiksackerl.
Eine furchtbare Geschichte, fesselnd, mitreißend, verstörend. Und am Höhepunkt der Tod des eigenen Vaters, durch die Hand des Sohnes. Mathias Illigen hat über sein Leben geschrieben und ein Teil seines Lebens ist auch diese dunkle Zeit. Aber Illigen schreibt auch über den Weg zurück, über den Maßnahmenvollzug, über die Schuld, über seine Gedanken. Mit dem Wissen, dass dieser junge Mensch seinen Vater erschlagen hat und nun ein Buch darüber geschrieben hat, verfolgt einen natürlich dabei ein ungutes Gefühl. Will da jemand daraus wirklich ein Geschäft machen? Will er diese Tragödie kommerzialisieren? Was aber – meiner Meinung nach – daraus geworden ist: ein Buch, das wie eine Therapie wirkt und für den Leser – wie mich – einen spannenden Einblick in die Psyche eines Menschen bietet, der an einer paranoide Schizophrenie leidet.
Man hat Mitleid mit Mathias, dass er nicht verstehen will, was in ihm vorgeht, weil er sich abwendet, eine langjährige Beziehung im Zuge der Verschwörung beendet, sich von seiner Familie immer weiter entfernt. Man ist erschüttert von der Tat. Und man freut sich für ihn, weil er es rasch wieder schafft. Weil er sich seiner Tat stellt, weil er reflektiert und weil die Stimme irgendwann plötzlich zu reden aufhört.
„Papa, es ist genug. Ich weiß, dass du mich vergiften willst, ich weiß, dass letzte Nacht die Satanisten bei dir waren, und ich weiß, dass du meine Mutter auf dem Gewissen hast. Ich weiß alles.“ Ich holte tief Luft, dann wiederholte ich: „Alles.“
Das Buch rüttelt auf. Vielleicht nicht das perfekte Rezensionsexemplar für den Tag vor Weihnachten. Aber irgendwie hängt das ja doch zusammen: am 24. Dezember 2006 hörte Mathias zum ersten Mal diese Stimme. Diese Stimme, die ihn immer stärker hineinzog, diese Stimme, die ihn schlussendlich zum Auserwählten erkor. Ein berührendes Buch, so schrecklich die ganze Tat auch ist. Ein spannendes Werk, zwar irgendwie auch für Voyeure wie wir es heutzutage sind, aber vielleicht gerade deshalb so wichtig: Weil man selten in den Geist eines unter einer Psychose erkrankten Menschens blicken kann.
Mathias Illigen
Ich oder Ich
Die wahre Geschichte eines Mannes, der seinen Vater getötet hat
rororo
Preis: 10,30 Euro (ebook: 14,90 Euro) (Info zu Partnerlinks)
256 Seiten
ISBN: 978-3-499-61991-5