Der berühmte Bruchteil einer Sekunde später. Der eine gedankenverlorene Schritt von ihr zu weit nach vor, der eine Fuß, der nicht auf der Bremse, sondern immer noch auf dem Gas ruht. Ihr Versuch, die Straße zu überqueren, seine Stimme, die so spät nachts noch versucht, wie die von Alanis Morisette zu klingen, was ihn selbst schmunzeln lässt. Alles wäre eigentlich ganz okay gewesen, wäre da nicht dieser eine verdammte Bruchteil dieser Sekunde. Der Schritt zuviel von ihr und das ungebremste Fahrzeug von ihm, ihre zweite Begegnung, der Aufprall, die Notbremsung, der leblose Körper.
Die Fahrt geht weiter, er will einfach nicht ans Stehenbleiben denken. Er will sich fortbewegen, weit fort, will nicht mehr zurück. Jede Verringerung des Tempos würde eine unnötige Verlängerung dieser Fahrt bedeuten und in Wahrheit will er doch nur nach Hause. Will seine Gedanken sortieren und will sich erinnern. Einfach nur erinnern, an den Abend, an die Nacht, an das Bier und die Musik. Will sich all das einprägen, um es nur ja nicht zu vergessen. Die Straßen fährt er beinahe blind, er kennt den Weg, er ist hier aufgewachsen und wirklichen Verkehr gibt es um diese Uhrzeit auch nicht mehr. „Isn’t it ironic?“, fragt ihn das Radio. Ja, ist es das nicht?
Nur noch den Gurt anlegen. Sicherheit geht schließlich vor. Der Heimweg fühlt sich wieder einmal viel zu lange an. Aber er ist fit genug, hat den ganzen Abend nur ein oder zwei Bier getrunken, über eine Zeitspanne von mehr als sieben Stunden. Daran dürfte die Fahrt nicht scheitern, er ist auch noch munter genug, eigentlich die perfekten Vorraussetzungen. Und der Abend? Er war schön, überraschend, er war – wie sagt man? – herausragend. Weil dieser Abend zwischen all den anderen Abenden, an die er sich nur vage erinnern kann, einen Grund zum Herausragen hatte. Ein Druck auf dein On-/Off-Knopf des Autoradios. Er öffnet das Fenster der Fahrertür einens ganz kleinen Spalt, atmet tief ein, langsam wieder aus. Herausragend war es, das stimmt.
Die letzten paar Stunden ist er nur mehr an der Bar gesessen, schweigend, hin und wieder von seiner Flasche Bier trinkend, die, da sie ständig umfasst war, schon beinahe seine Körpertemperatur übernommen hat. Hat der Musik gelauscht und manchmal aufgrund der Lautstärke etwas unbeholfenen Bestellversuche beobachtet. Seine Freunde waren noch irgendwo auf der Tanzfläche, deutlich betrunkener als er, deutlich motivierter. „Du kannst ruhig schon“, meinte einer von ihnen „Wir nehmen uns sonst ein Taxi. Alles kein Problem.“ Und nachdem er wirklich nicht mehr lange bleiben wollte, nahm er ihn beim Wort.
„Ist hier noch ein Platz frei?“, fragt sie und für den Bruchteil einer Sekunde er ihr direkt in die Augen, beginnt zu lächeln, zu nicken, und sagt: „Klar.“ Sie bestellt sich ebenfalls ein Bier und beginnt zu erzählen, erzählt aus ihrem Leben, erzählt von heute Abend, von ihren Freunden, von der Welt und dass sie ihn beobachtet hat. Dass sie bemerkt habe, dass er sich unwohl fühle hier und dass sie das nur zu gut verstehen könne. Ihr gefalle es auch nicht so besonders, aber ihre Freunde, er verstehe schon, und dass es doch schön ist, wenn man dann eine erste Begegnung wagt und einen wie ihn so anspricht. Die beiden sitzen, mit Blick auf die Bar, welche einen Ausblick auf unzähligen verschiedene Alkoholikas bietet und hören sich gegenseitig beim Erzählen zu, lachen, sehen hin und wieder in das Gesicht des jeweils Anderen. Immer mal wieder schauen ein paar Freunde vorbei, mal von ihr, mal von ihm. Doch irgendwann springt sie auf, und verabschiedet sich, mit einem Kuss auf die Wange, „Bis bald vielleicht mal!“, sie müsse jetzt los, noch was zu erledigen. Und plötzlich sitzt er wieder da, alleine an der Bar, wartend auf die Zeit, an denen es seinen Freunden zu langweilig werden und er sie alle heimfahren würde.
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