„Aber wissen Sie was?“

Blumen

„Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“, fragt er die alte Dame, die er nun schon einige Minuten lang beobachtet hat. Eigentlich wollte er sich nur entspannen, eine kurze Pause einlegen, mal den Kopf abschalten und die nachmittägliche Frühlingssonne in sich aufsaugen. Doch diese alte Dame hat es ihm angetan. Völlig allein sitzt sie da, und seit kurzem kullern große, schwere Tränen über ihre Wangen, die sie mit einem Stofftaschentuch unsichtbar machen möchte. Doch er hat sie erblickt und er hört auch manchmal ihr stilles Schluchzen. Sie blickt nicht hoch, die Augen auf die vor ihr liegende Blumenwiese gerichtet, und schüttelt den Kopf. „Wissen Sie, mein Herr, es ist schon gut so.“

Normalerweise hätte er sich von so einem Verhalten abwimmeln lassen, aber durch das freundliche Gemüt der alten Dame und vor allem, dass sie ihn mit „mein Herr“ angesprochen hat, lässt ihn nicht einfach verstummen. „Ist es das wirklich?“ Erst jetzt sieht sie ihn an und er setzt sich direkt neben sie. „Ach, wissen Sie.“, beginnt sie das Gespräch und wischt sich noch einmal die Tränen von den Wangen. „Natürlich ist es gut. Wer bin ich denn, dass ich mich beschweren darf?“ Jeder darf sich mal beschweren, denkt er sich und spricht es auch aus. „Aber man kann ja doch nichts ändern, verstehen Sie nicht?“ Er schüttelt den Kopf. Sie spricht zwar noch etwas in Rätseln, aber er will nicht locker lassen.

„Wollen Sie mir erzählen, was Sie denn so bewegt?“, bohrt er nach. „Sehen Sie die Blumen hier? Es ist wunderschön“, beginnt sie, „Jahr für Jahr wieder. Es ist immer wieder wunderschön, jedes Jahr aufs Neue ist es beeindruckend, wie wundervoll die Blumen wieder wachsen.“ Er nickt. Der Lauf der Natur ist beeindruckend, auch für ihn. „Aber wissen Sie, mein Herr, es verwelkt ja doch. Alles verwelkt mit der Zeit. Nichts bleibt für immer. Und Sie, Sie sind vielleicht noch ein solcher Löwenzahn, knallgelb und leuchtend. Aber ich, ich bin schon zu einer Pusteblume verkommen. Es muss nur noch ein Windstoß kommen und mich davontragen.“

„Aber sagen Sie doch so etwas nicht“, wirft er in die kurzzeitige Stille ein. Aber ein weiteres Schluchzen und eine erneute Träne beweist ihm, dass sie es ernst meint. Selten hat er bisher mit älteren Menschen in dieser Form über die Vergänglichkeit gesprochen. Irgendwie dachte er, dass man irgendwann zu dem Punkt, an dem es Zeit wird, an dem man Abschied nehmen kann, an dem der Tod auf der ToDo-List der letzte noch nicht angekreuzte Punkt ist. Aber diese alte Dame wollte das nicht auch noch ankreuzen. „Wissen Sie, in meinem Alter, da, da sterben alle Freunde weg, und“, ein Schluchzen schleicht sich in den Satz, „auch die Liebe meines Lebens, wissen Sie?“ Und jetzt ist nur noch sie übrig. „Und wenn ich schon früher gewusst hätte, wie ich heute da sitzen werde, glauben Sie mir, ich hätte so vieles anders gemacht. Aber ich will Sie damit gar nicht belasten. Das ist doch nur das Jammern einer bedauernswerten alten Dame, nicht wahr?“

„Ich verstehe Sie“, sagt er und nimmt ihre Hand. „Aber wissen Sie, das Leben als Pusteblume ist nicht nur das Warten auf den Windstoß.“ Sie sieht ihm Tief in die Augen. „Eine solche Pusteblume trägt die Zukunft in ihrem Blütenkopf, der Windstoß trägt die Erinnerung über die ganze Welt und ein Teil von ihr wird auch im nächsten Frühling wieder blühen.“ Sie lächelt. „Und vielleicht ist ein Teil von der Liebe Ihres Lebens, oder eine Ihrer verstorbenen Freundinnen ein Teil dieses Löwenzahns.“ Sie legt ihre zweite Hand auf die meine. „Sie sind ein kluger, junger Mann, wenn ich das so sagen darf.“ Auch er lächelt, die feuchten Augen der alten Dame sind etwas trockener geworden. „Und wissen Sie, so einfach ist das Leben als Löwenzahn ja auch nicht.“ Die beiden plaudern noch, sie erzählt ihr von ihrem Mann, der vor zwei Jahren gestorben ist, ’nach langer, schwerer Krankheit‘, wie man so schön sagt. Sie erzählt von ihrer besten Freundin, die sie schon seit ihrer eigenen Kindheit gekannt hat, und die trotz der verschiedenen Leben, die sie lebten, nie aus den Augen verloren hat und die vergangene Woche schließlich auch gestorben ist. „Früher war es ein Kommen und Gehen, verstehen Sie? Aber jetzt ist es nur mehr ein Gehen.“ Sagt sie und nickt, mit dem Blick wieder auf die Blumenwiese gerichtet. „So ist das Leben, ich weiß. Aber nur weil es das Leben so vorsieht, muss ich es ja nicht unbedingt gut finden.“ Nein, das muss sie nicht.

„Aber wissen Sie was? Ich bin froh, dass Sie in ihrem Leben nichts anders gemacht haben. Hätten Sie nur einen einzigen Moment in ihrem Leben anders gelebt, würden wir jetzt nicht hier sitzen und ich hätte Sie nie kennengelernt. Und wissen Sie was? Sie würden mir fehlen, auch wenn ich sie jetzt erst seit ein paar Minuten kenne, die Begegnung mit Ihnen, sie würde mir fehlen.“

Bildquelle: Namensnennung Bestimmte Rechte vorbehalten von Jonas Weckschmied

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