Edgar Wibeau erkennt in seinem als Klopapier gedachtes Reclambüchlein ein Stück Weltliteratur.
Edgar Wibeau, ein 17-jähriger junger Mann (bzw. vielmehr: Jugendlicher), flieht nach Berlin. Ist es für die einen gut, dass sie in der DDR bereits zu einem nicht ungewissen Teil ein vorbestimmtes Leben haben, so widersetzt sich W. – nach seinem bisherigen Leben als Vorzeige- und Musterschüler – erstmals diesen Bestimmungen. Taucht nach einem Vorfall einfach nicht mehr in seinem Job auf, haut aus seiner Heimat Mitternberg ab und schlägt sich bis in die Hauptstadt durch.
Kunst wolle er machen, schon immer, aber sie nehmen ihn nicht auf der Kunsthochschule, erkennen nicht beim ersten Mal sein Genie. In einer alten baufälligen Laube findet er ein Dach über dem Kopf, kein gutes, aber zumindest irgendeines. Und lernt Charlie kennen, eine 20-jährige Frau, in die sich W. weiter und weiter vernarrt. Aber der Wahn ist nicht nur in Sachen Liebe zu spüren: W. macht alles entweder gar nicht, oder mit deutlich zu viel Intensität. Ein junger Sturm und Drängler eben.
Ulrich Plenzdorf
geboren 1934 und gestorben 2007 in Berlin
Weitere Werke:
- Ein Tag länger als ein Leben
- Legende vom Glück ohne Ende
Ich war damals einer der wenigen, der Die Leiden des jungen Werther freiwillig und gerne gelesen hat, bevor wir uns als Schulklasse eine hervorragende Bühnenfassung angesehen habe. Und ich bin wohl auch einer der wenigen, der es danach noch mindestens einmal wieder gelesen hat. Damals, das dürfte wohl schon vor mehr als zehn Jahren gewesen sein, habe ich mir in einer Buchhandlung auch „Die neuen Leiden des jungen W.“ gegönnt, gelesen habe ich es erst in diesem Jahr. Und … naja.
Plenzdorf hat die klassische Werthergeschichte sehr gekonnt und unterhaltsam in diese Übergeschichte eingebaut, er stellt Edgar jugendlich-triebgesteuert da, wie wir wohl alle waren. Charlie wirkt immerzu sympathisch, und doch so unnahbar. Aber dieses: „Verdammt, Charlie, küss ihn doch endlich!“ hat sich bei mir nie richtig eingestellt – beim „Original“ war das eindeutig anders. Da wollte ich, dass Charlotte wissen würde, was dieser Werther so im Kopf hat. Bei den neuen Leiden seh ich es als nette, verrückte Verliebtheit, aber ich kann Charlie mehr als gut verstehen – auch wenn ihr Freund und späterer Mann ein Langweiler ist. Lieber ein Langweiler, als einer, der sich mit Reclambücher als Klopapierersatz anfreunden kann.
Ich hatte nichts gegen Lenin und die. Ich hatte auch nichts gegen den Kommunismus und das, die Abschaffung der Ausbeutung auf der ganzen Welt. Dagegen war ich nicht. Aber gegen alles andere.
Ich glaube, ich habe zwei Probleme mit dem Buch: Ich bin nicht mehr in meiner Pubertät und ich kann mir einerseits das Leben in der DDR, andererseits das DDR-Berlin nicht wirklich vorstellen. Ist der klassische Werther ein wunderschön geschriebener, kitschiger Briefroman mit einem Suizid am Höhepunkt, ist W. ein planloser, ein oft auch hilfloser und schlussendlich eindeutig verrückter Jugendlicher, der viel zu sehr an sich glaubt. Eh nicht schlecht, aber ganz eindeutig nicht mein liebster literarischer Charakter.
Ulrich Plenzdorf
Die neuen Leiden des jungen W.
Suhrkamp BasisBibliothek
Preis: 6 Euro (Taschenbuch), 5,99 Euro (eBook) (Info zu Partnerlinks)
148 Seiten