Selbst.

„Ist dir schon einmal aufgefallen,“, sage ich, als wir gemeinsam durch die überdimensionierte Buchhandlung streifen und ich mit meinen Fingerspitzen über die zahlreichen ungelesenen Bücher streiche, „dass es Abertausende Bücher zur Selbstfindung gibt.“ Du nickst. „Aber niemand schreibt darüber, wie es dazu kommt. Wie man sich so sehr verlieren kann, nur um auf die Suche nach sich selbst gehen zu müssen. Niemand schreibt über den Verlust seiner Selbst, alle nur, wie glorreich es sein wird, wenn man fündig wird.“ Du versuchst mir verzweifelt zu folgen. „Es gibt ja auch Bücher über Krieg und Frieden. Und Bücher über die Heilung von Krebs, aber niemand schreibt Bücher, wie man Krebs bekommt. Vielleicht ist Selbstverlust eine Art psychischer Krebs.“ Du blickst mich verwirrt an. „Aber was würde es auch bringen. Niemand will einen Ratgeber über das Hineingeraten, darüber kann man maximal im Nachhinein schreiben, als eine Art Resümee, mit all dem angereicherten Wissen, das man durch das glorreiche Finden angehäuft hat. Aber das ist dann irgendwie nicht mehr authentisch, findest du nicht? Wenn man eine Sache nur beschreibt mit dem Wissen, mit welchem es nie so weit gekommen wäre? Da betrügt man sich selbst, fühlt sich wahrscheinlich wunderbar dabei, so viel klüger und vergisst auf das mickrige Selbst, das man zuvor über so lange Zeit war.“

„Aber vielleicht ist das auch nur Selbstschutz, denkst du nicht?“ Ich nicke. „Was nützt es, all den Schmerz des Verlustes im Augenblick des Geschehens niederzuschreiben, im Akt der Selbstzerstörung noch schriftlich eines drauf zu setzen? Kein Raucher beschreibt die Jahre des massiven Zigarettenkonsums beim Erkennen, dass es seiner Lunge nicht mehr gut geht. Man muss sich wahrscheinlich sowieso erst wieder selbst finden, um die richtigen Worte zu finden.“ Während wir bereits in den zweiten Stock der Buchhandlung vorgestoßen sind, streiche ich wieder weiter über die Buchrücken und lausche dir. „Und was würde es da bringen, all das neue Wissen, das Gelernte dann mit voller Absicht zu vergessen? Betreibt man dabei nicht Selbsttäuschung? Gelingt es einem überhaupt?“ Ich nicke und schüttle den Kopf zugleich. „Und das Wichtigste ist: Du musst diese Selbstfindungsbücher ja nicht lesen. Aber wenn der Autor nur einen kleinen Funken Authentizität in seine Arbeit steckt, dann kannst du eines lernen: Es geht wieder aufwärts. Aus Verlust kann Neues entstehen, ein Fund kann einen Wandel erzeugen. Selbst wenn das nur bedeutet, dass man irgendwann selbst zwischen all den Lebensratgebern zu finden ist.“

Bildquelle: geralt / Pixabay

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