Als ich die letzten beiden Stufen mit einem Schritt nehme, verlieren sich unsere beiden Hände, trennen uns für den Augenblick des Moments, bis auch sie diese beiden Stufen, eine nach der anderen, in Angriff nimmst. Langsam bewegen wir uns weiter, der Boden knirscht, an Tausenden Stellen hier im Haus, und jedes Mal zucken wir zusammen, durchbrechen wir doch damit relativ ungestüm diese Stille und die Dunkelheit, die nur von unserer schwachen Taschenlampe durchströmt wird.
„Komm kurz mit“, sagt sie und zieht mich in die Küche, wo der Boden zwar stiller ist, aber dafür die Tür des Kästchen seine Geräusche abgibt. Sie holt eine große Kerze heraus, und gefühlte einhundert Teelichter. Der Sturm ist über uns gezogen, innerhalb weniger Minuten waren Blitz, Donner, Regen und Hagel schon wieder Geschichte, nur der Stromausfall, der bleibt. Offenbar hat es irgendwie in der Umgebung eine obererdige Stromleitung erwischt. „Hast du ein Feuer?“
Natürlich nicht. In Boxershort und T-Shirt, gerade erst aus dem Bett gekrochen und etwas hilflos nach der einen Taschenlampe gesucht, habe ich darauf vergessen, mir gleichmal ein Feuerzeug hinters Ohr zu stecken. „Ach, passt schon. Ich hab Zündhölzer gefunden.“ Es zischt, wir beide, die Küche, alles ist im Licht, bis sich das Feuer beruhigt und an den Docht der Kerze weitergegeben wird. „Hast du Angst?“, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf. Sie hat nie Angst. Außer vor zwei Stufen auf einmal, davor hat sie ganz offensichtlich Angst. Das sind zwei der wenigen Sachen, bei denen ich hingegen mit Mut protzen kann. Es ist schon mulmig, ein ganzes Haus in Stille, draußen noch der wütende Wind, manchmal noch Regenschauer gegen unsere Fenster, in der Ferne Blitze. Plötzlich wird das Chaos vor dem Fenster von hellem Licht durchbrochen, die Feuerwehr rast vorbei, mit Sirene und Blaulicht. „Wahrscheinlich vollgelaufene Keller oder umgestürzte Bäume.“, sagt sie, als sie meinen fragenden Blick aus dem Fenster und dann zu ihr mitbekommen hat. „Mach dir keine Sorgen.“
Und ich will mir auch keine Sorgen machen, will doch ich der Mutige sein. Der Zwei-Stufen-auf-einmal-Nehmer, der, der in Momenten wie diesen den Überblick bewahrt. „Der Schutzschalter reagiert nicht“, sagt sie, als sie kurz aus der Küche entflohen ist und nachgesehen hat. Selbst das habe ich vergessen, den einfachsten Trick bei einem Stromausfall. Das Wundermittel zur vollhäuslichen Erleuchtung. Sie zündet weiter ihre unzähligen Kerzen ein, von Dunkelheit kann jetzt keine Rede mehr sein. Ich nehme ein paar, sie auch, und gehen wir ins Wohnzimmer, platzieren sie um uns herum und setzen uns auf die Couch. Die vielen Lichter flackern rund um uns herum, fast wie ein Schutzkreis, fast als wäre hier vollkommene Sorglosigkeit angesagt.
„Darf ich ehrlich sein?“, frage ich. Sie nickt. „Um ehrlich zu sein, ich habe etwas Angst. Ich habe nicht Angst vor Regen, oder Donner, Blitz oder Hagel, vor Feuerwehrautos oder große Äste, die durch den Wind an unsere Fenster geschlagen werden. Ich kann nicht sagen, warum oder wovor, aber ich habe etwas Angst. Und du sitzt da und hast den vollen Plan, weißt, was zu tun ist und machst aus dieser Misere eine hell erleuchtete Insel. Und ich habe Angst, bin keine große Hilfe und frage mich, womit ich dich verdient habe. Ich frage mich, weil doch jede Frau einen mutigen Mann haben möchte, jemanden, der als Retter in der Not immer zur Stelle ist, und ganz einfach keine Angst hat. Einer, der – sollte unser Dach davonfliegen und Unmengen an Wasser über den Dachboden immer weiter nach unten gelangen – dich Huckepack nehme würde und mit dir auf dem Rücken aus dem Haus sprinten würde. Und weißt du, ich weiß nicht, ob ich dazu nicht zu viel Angst hätte.“
Sie lacht. Ein leises, nicht gemeines, aber ehrliches Lachen. „Weißt du was?“, beginnt sie. „Ich kenne dich schon lang genug, und ja, manchmal bist du ein Angsthase und ich da eben nicht, aber weißt du was? In manch anderen Sachen fehlt mir der Mut, den stattdessen du hast. Wir ergänzen uns, weißt du. Und Dunkelheit – das ist es wahrscheinlich, wovor du jetzt etwas Angst hast-“ Sie kennt mich besser als ich selbst. „Dunkelheit ist ein Arschloch.“ Und wie auf Kommando ist es plötzlich wieder da, das Licht, der Fernseher auf Standby, das W-LAN-Symbol am Handy. „Weißt du was?“, fragt sie, ein weiteres Mal, steht aber sogleich auf und verlässt mit schelmischem Grinsen das Zimmer. Plötzlich ist das Licht wieder weg und sie kommt zurück. „Ich finde es schön, hier mit dir. Und du kannst jetzt die Dunkelheit ein wenig auskosten, mit dem Wissen, dass es nicht für ewig ist. Gewöhne dich dran.“
„Du bist süß.“, sage ich und lache, weil ich Angst gehabt habe, und all das jetzt irgendwie ein bisschen weniger ist. „Und, falls wir wirklich mal Hochwasser von oben bekommen, dann vertraue ich nur auf eine einzige Person und das bist du. Weißt du warum?“, sagt sie, grinst mich an und setzt fort: „Weil ich mit dir, ich auf deinem Rücken, doppelt so schnell aus dem Haus flüchten könnte, weil ich keinen anderen Menschen kenne, der so mutig zwei Stufen auf einmal nimmt.“ Ich grinse, lege meinen Kopf in ihren Schoß, schaue in die Lichter der Kerzen. Das stimmt. „Weißt du was?“, frage diesmal ich. „Ich mag die Dunkelheit.“ Sie streicht mir durchs Haar und sieht mich fragend an. „Aber nur, weil du darin bist.“
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