Gelebt, erlebt, überlebt • Gertrude Pressburger

Innerhalb weniger Tage erlangte die damals 89 Jahre alte „Frau Getrude“ kurz vor der finalen Präsidentschaftswahl im Dezember 2016 weltweite Berühmtheit, als sie vor Bürgerkriegsrethorik und Hass warnte. Nun hat sie ihre Geschichte der Journalistin Marlene Groihofer erzählt – ein schmerzhaftes, ein verstörendes und gerade deshalb derart wichtiges Buch, gerade in der heutigen Zeit.

Die Familie Pressburger lebte in Wien – Gertrude mit ihrem Vater und ihrer Mutter, mit Heinzi und Josef Ernst, den alle nur Lumpi nennen. Sie sind katholisch getauft, besuchen den katholischen Religionsunterricht in der Schule und gehen am Sonntag in die Kirche. In Wahrheit sind sie aber Juden – ein Umstand, der Gertrude erst bewusst wird, als sie aufgrunddessen fliehen müssen. Sie geben ihre Heimat in Wien auf, organisieren die Flucht, steigen in den Zug und gelangen nach Jugoslawien. In den kommenden Jahren müssen sie immer wieder weiterziehen, nach Italien und irgendwann wollen sie es auch nach Frankreich schaffen. Doch dann kommen sie nach Ausschwitz.

Gleich zu Beginn wird sie von ihrer gesamten Familie getrennt – sie schlägt sich von da an alleine durch. Lange Zeit hat sie noch Hoffnung, dass ihre Brüder und Eltern noch leben, später hofft sie auf das Überleben des Vaters. Und kämpft tagein, tagaus ums Überleben. Teilweise ist sie wie betäubt, findet sich bereits damit ab, hier zu sterben, dann findet sie jedoch wieder Kraft und Mut, weiter durchzuhalten.

Hätte ich mich nach dem Apfelrest gebückt, hätte ich viel für mich verloren. Dass ich es nicht tue, verschafft mir einen Funken Anerkennung – und sei es nur durch mich selbst. Meine Menschenwürde ist das Kostbarste, was ich noch habe. Sie ist mir Trost und Motivation. Ich schwöre mir, sie mir nicht nehmen zu lassen.

Nach der Befreiung kommt sie nach Schweden, lernt dort auch den späteren Bundeskanzler, den jüdischen Sozialdemokraten Bruno Kreisky kennen, der selbst 1938 dorthin ins Exil flüchten konnte. Nach der Gesundung wagt sie sich schließlich wieder zurück in ihre Heimat und erkennt, dass es nicht mehr ihr Wien war. Doch sie blieb. Und erzählt nun ihre Geschichte.


Gertrude Pressburger und Marlene Groihofer

Foto: Lukas Beck | Hanser Literaturverlage / Zsolnay

geboren 1927 und 1989

Im März 2016 erschien die einstündige Radioreportage „Die Einzige, die überlebt hat“ über die Erinnerungen und das Leben von Frau Pressburger – konzipiert und umgesetzt von Marlene Groihofer. Für diese Arbeit erhielt sie den Österreichischen Radiopreis 2016, den Prälat Leopold Ungar-Preis 2016, den Dr. Karl Renner Publizistikpreis 2016 und den New York Festivals World’s Best Programs Award. Die gesamte Reportage gibt es hier zum Nachhören.


Österreich hatte einen langen, nicht enden wollenden Wahlkampf hinter sich – über acht Monate hinweg standen sich die beiden Lager gegenüber. Die, die für ein offenes, für ein gemeinsames Österreich eintreten und dabei den heutigen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen unterstützten – und jene, die den Kandidaten der FPÖ unterstützten. Anfang Dezember wurde dann auf der Facebookseite von Van der Bellen das „Video-Statement von Gertrude“ gepostet. Ihre Worte haben mich damals berührt, haben gezeigt, welche Macht und welche Gewalt von Worten ausgehen können. Ich fand diese alte Frau unglaublich mutig und ihr Statement so wichtig, vor allem in dieser Zeit.

Als ich von ihrem Buch gelesen hatte, habe ich mich gleich um ein Rezensionsexemplar bemüht und innerhalb weniger Tage das Buch ausgelesen. Ihre Geschichte ist so einzigartig, ihr Schicksal aber doch eines von Millionen. Immer wieder tauchen in den Zeiten der Flucht, in Jugoslawien und Italien kleine Abzweigungen auf, die ihr ganzes Leben verändert hätten. Aber es kam nicht soweit und die junge Frau und ihre Familie kamen nach Ausschwitz. Es ist unvorstellbar, was sie in dieser Zeit dort erlebt hat, aber sie erzählt den Wahnsinn, die Brutalität und den puren Hass, dem sie begegnet so ehrlich, dass das Lesen teilweise Schmerzen verursacht. Weil da dieser Kloß im Hals ist und nicht mehr weggehen möchte; weil es in Wahrheit unvorstellbar ist, was damals passiert ist – und man sich doch immer vor Augen führen muss, dass die handelnden Personen trotz allem Menschen waren. Dass Menschen zu so etwas fähig waren und es vermutlich immer noch wären.

Frau Pressburger hat überlebt, ihre beiden Brüder und ihre Eltern haben im Konzentrationslager Ausschwitz ihr Leben verloren. Es ist beeindruckend, mit welcher Kraft und mit wie viel Mut sie sich durchgekämpft hat, zurück in ein Leben, dass trotz alledem noch ein Leben werden konnte. Und vor allem ihre Beschreibungen vom Nachkriegsösterreich sind für uns alle wichtig: Weil sie zeigen, dass die Entnazifzierung nicht mit dem Ende des Krieges abgeschlossen war – dass der Nationalsozialismus, der Antisemitismus und die Ausgrenzung auch weiterhin einen Platz in Österreich hatte. Und wie man, wen man den aktuellen Ereignissen rund um Parteimitglieder der FPÖ folgt, auch immer noch hat.


In den Medien:

In Blogs besprochen:

Video-Statement von Frau Gertrude:


Wenn Parteien für ein »besseres Österreich« plädieren, dafür, dass sich Wenn Parteien für ein »etwas ändern« müsse, stellt es mir die Haare auf. Es kann nur schlechter werden, denke ich dann.

„Gelebt, erlebt, überlebt“ ist eine Biografie eine herausragenden Österreicherin. Marlene Groihofer hat Gertrude Pressburgers Erzählungen unverblümt aufgezeichnet, hat die Brutalität ihrer Erinnerungen in einen passenden Rahmen gepackt und damit ein Buch erschaffen, dass mich für längere Zeit sicher nicht mehr loslässt. Am Liebsten würde ich das Buch dutzendfach verschenken und verschicken, ans PolitikerInnen und Kommentatoren, für die Ausgrenzung und Schuldzuweisungen auch heute noch gang und gebe sind. Jeder Schüler und jede Schülerin sollte dieses Werk lesen, so wie auch jeder und jede einmal in ihrer Schulzeit ein Konzentrationslager besuchen sollte. Man muss in Berührung kommen mit all dem Wahnsinn, mit der Zerstörung, der Unmenschlichkeit und dem Hass, zu dem Menschen vor wenigen Generationen fähig waren. Um daraus zu lernen, um – so abgedroschen es auch klingen mag – eine bessere Welt zu erschaffen. Gerade deshalb bin ich ewig dankbar, dass Frau Pressburger uns, trotz des unbändigen Schmerzes, ihre Geschichte erzählt hat und die Journalistin Groihofer sie für uns niedergeschrieben hat.


Gelebt, erlebt, überlebt

Gertrude Pressburger

aufgezeichnet von Marlene Groihofer

Zsolnay

Preis Hardcover:  19,60 Euro in AT, 19 Euro in DE, 29,90 sFr in der CH
Preis eBook: 14,99 Euro in AT und DE, 22 sFr in der CH

208 Seiten
ISBN: 978-3-552-05890-3

Leseprobe

 


Transparenz: Mir wurde auf Anfrage ein kostenloses eBook-Rezensionsexemplar von Hanser Literaturverlage zur Verfügung gestellt.

 

3 thoughts on “Gelebt, erlebt, überlebt • Gertrude Pressburger

  1. Es ist zwar ein eher unwichtiges Detail, aber ich freue mich, dass du „Frau Gertrude“ schreibst und nicht „Oma Gertrude“, wie sie quer durch den Boulevard genannt wurde.

    1. Wir sind hier ja nicht im Boulevard. 😉 Hab über Frau Pressburger 2016 eigentlich ausschließlich als „Frau Gertrude“ gelesen. Finde die andere Bezeichnung auch sehr, sehr respektlos.

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