Alle warten.

Und schlussendlich sind alle gestorben. All die Erinnerung, der Schrecken, all die furchtbaren Bilder sind verschwunden, sind zu Grabe getragen worden, sind untergegangen. Es war doch nur eine Frage der Zeit.

Mein Blick schweift über die nebelige Landschaft, legt sich kurz auf geackerte Felder, hüpft weiter, zu den Windrädern und den Hügeln in der Ferne. Es ist bemerkenswert ruhig, fast schon weihnachtlicher Friede liegt in der Luft, und innerlich brodelt es, lässt mich erzittern und ich kralle mich am Geländer fest. Was, wenn all das, was ich mir vorgenommen habe, wenn all meine Pläne und Träume, wenn all das plötzlich verschwinden würde. Wenn all jenes, auf welches man seit Jahren hingearbeitet hat, plötzlich einfach nicht mehr da wäre. Und wenn man plötzlich nicht mehr funktioniert, weil man noch nie richtig funktioniert hat und in Wahrheit eigentlich auch niemals wirklich funktionieren wollte. Was, wenn all das, von dem einem immer vorgeschwärmt wurde, einfach nur eine riesige Lüge war.

Nie verlässt mich die Angst, es nicht zu schaffen. Nicht in der Welt da draußen zurechtzukommen. Nicht hineinzupassen und – verdammt noch mal – nicht zu funktionieren. Es hat uns niemand darauf vorbereitet, hat uns niemand davor gewarnt, man hat uns hineingestoßen, uns das Blaue vom Himmel versprochen, uns vorgeschwärmt. Und nun sind wir gefangen, der Weg zurück kann nicht beschritten werden.

In der Ukraine verprügeln sie die eigenen Leute auf der Straße, in Ägypten regiert das Militär, die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien steigt und steigt. Es macht sich Aussichtslosigkeit breit und die Medien haben uns schon vorsorglich den Titel der verlorene Generation auf unsere Stirn geheftet, und ich sehe hinaus in die Ferne und möchte meinen Eltern und Großeltern, meinen Tanten und Onkeln gerne „Eure verdammte verlogene Generation!“, ins Gesicht brüllen, möchte sie aus tiefstem Herzen treffen, möchte sie wachrütteln und ihnen vor Augen führen, was sie hier verbrochen haben. „Ihr habt es gewusst, verdammt noch mal, ihr habt gewusst, was uns erwartet. Ihr hattet eine Ahnung, hattet ausreichend Wissen, aber ihr habt einfach nur geschwiegen und habt uns großgezogen. Habt uns die heile Welt vorgegaukelt, obwohl das Drama doch bereits absehbar war. Es ist ein Krieg, der um uns passiert, ohne Panzer und Granaten. Wir sind unschuldig in den Kampf geschickt worden, für eine Sache, die nicht die unsere ist.” Wir sollen für das Resultat kämpfen, dass die Generationen vor uns bereits verloren hat. Vielleicht sind wir ja eine verlorene Generation, aber das auch nur, weil wir auf den Trümmern des Verlorenen bestehen müssen. Nur wenig haben sie uns übrig gelassen, und stoßen noch nach, fordern ein, und verstehen einfach nicht.

Wir sind die Kinder der Krise, die wir nicht verschuldet haben. Wir sind die Opfer ihrer Vergangenheit, müssen trotz aller Widrigkeiten zukünftige Möglichkeiten säen, müssen es zum Wachsen bringen und werden immer wieder niedergetrampelt. Wir wollen unser eigenes Leben auf die Reihe bringen und wollen außerdem noch das Leben für unsere Kinder zu einem besseren machen. Wir sind – verdammt nochmal – zum Scheitern verurteilt.

Was war ihr Traum? Konnten sie überhaupt noch träumen, oder waren sie gezwungen, zu handeln? Waren sie gezwungen, vorne an der Front zu stehen, ihr Leben zu riskieren, in dieser großen Unsinnigkeit, in diesem Wahnsinn der Nationen, in dieser Idee der Zerstörung? Wollten sie es einfach nur hinter sich bringen, um endlich wieder mit dem Träumen beginnen zu können?

Wonach sollen wir uns sehnen? Wohin sollen wir gehen. Ich weiß es nicht und es macht mich verrückt. Immer und überall diese Bilder, diese verdammten Bilder aus einer verdammten Welt. Die Giftgasangriffe eines Diktators auf die eigene syrische Bevölkerung, die Unterdrückung Homosexueller in Russland und die Hetze gegen Roma und Sinti in Ungarn. Was haben wir nur dazugelernt? Wir sind doch noch genauso dumm und verwirrt, noch genauso verrückt und gestört, wie damals, als wir es nicht sehen wollten und sich die Ereignisse überschlugen. Überall wird Hass geschürt, überall ist man auf der Suche nach dem Schuldigen und immer findet man den einen. Den einen Schuldigen, der uns hierher gebracht haben. Immer findet man ihn und versucht ihn zu beseitigen, will unter sich bleiben, hat Angst. Überall die Angst, die niemals enden will, die uns erdrücken wird, die uns an den Rande des Wahnsinns führen wird.

Es ist die Welt, die uns so ängstlich macht. Es ist das, was ihr geschaffen habt, dass uns so ängstlich macht.

Ungeduldig zünde ich mir eine Zigarette an, inhaliere den giftigen Stoff, behalte ihn für ein paar Sekunden zu lange in meiner Lunge und atme ihn wieder aus. Will verstehen lernen, will lernen, wie man damit umgehen kann. Wie man in dieser Welt zurecht kommen könnte. Und mit jedem Zug werde ich ratloser, fehlt mir der Mut und der Weitblick. Da sind wir, die verlorene Generation, und wollen doch einfach nur leben. Wollen einfach nur ein Leben führen wie die Generationen vor uns, friedlich, in angenehmen Wohlstand. Wir brauchen weder Milch noch Honig, wir haben einfach nur gehofft, dass alles so ist wie es war, nur ein kleines bisschen besser. Doch das, was wir jetzt vorgesetzt bekommen haben, ist wahrhaftig verloren. Ist am Ende und kann, wenn überhaupt, nur mehr unter stärkster Kraftanstrengung gerettet werden. Wenn wir als Team arbeiten, wenn wir über unsere persönlichen Horizonte zu blicken lernen, wenn wir einmal aus unserem geschützten kleinen Garten wandern.

Aber das ist das Problem: Wir haben es nicht gelernt. Wir haben nicht gelernt, aufeinander zu achten, haben nicht gelernt, gemeinsam etwas besser zu machen. Ihr habt es uns nicht gelehrt und wahrscheinlich auch nur, weil ihr es nie gelernt habt. Wir haben es nicht anders verdient, womöglich, und all das ist nur die Konsequenz aus der Unfähigkeit unserer Spezies, aus den eigenen Fehlern zu lernen. Die Asche fällt auf meine Hose, ein glühendes Stück wische ich noch weg, bevor sich ein Loch hineinbrennt. So glücklich euer Leben vielleicht auch schien, es war alles nur Fassade. Es war alles nur auf Zeit und die scheint nun schon abgelaufen zu sein. Es ist fünf vor zwölf und die meisten wollen es trotzdem immer noch nicht verstehen.

Es wird immer noch gestritten, wird Krieg geführt, im Großen wie im Kleinen. Nur geht es heutzutage nicht mehr nur um die Nationen an sich, um die Herrschaftsansprüche der Regierenden, sondern vor allem auch um Rohstoffe. Das macht es um nichts besser, sondern gar noch perverser, noch gestörter, als jegliche Auseinandersetzung bisher war. Und ich bin mittendrin. Möchte alle Menschen wachrütteln, möchte ihnen zeigen, wie es anders ginge, möchte helfen. Und bin vollkommen machtlos.

Wochenlang haben sie ausgeharrt, immer im Kopf, dass der Feind plötzlich vor sie treten könnte, haben gewartet und hatten Angst. Alles nur für ein dummes Spiel der Mächtigen, für einen Traum der Einigkeit, der aus dieser Uneinigkeit entstehen sollte. Immer im Kopf die Angst, immer in der Hand die Waffe. Paralysiert haben sie ausgeharrt und sind nie wieder davon zurückgekommen.

Und doch will ich es nicht wahrhaben, will mich nicht damit zufrieden geben. Will nicht die Macht über mich verlieren, indem ich einfach nur ausharre, aus lauter Angst. Will es in Angriff nehmen, will ganz vorne dabei sein, will dabei sein. Wenn die Welt endlich versteht, dass wir all das nicht nötig haben. Möchte Hand anlegen, an einer neuen Form des Lebens, möchte verstehen lernen. Möchte es anders machen, trotz aller Widrigkeiten. Möchte an diesem Leben teilhaben, mit ganzer Kraft und tiefster Überzeugung. Es wird mir nicht leicht gemacht, das weiß ich. Zu wenig hat sich verändert, zu viel hat sich gefestigt. Der Hass und die Dummheit, der Schmerz und die Hoffnungslosigkeit.

Wer, wenn nicht wir hat heute die Kraft für das Morgen zu arbeiten. Hat heute die Ideen für ein besseres Übermorgen. Wer, wenn nicht wir muss sich endlich erheben, muss die Angst abschütteln, muss zu Risiko bereit sein und sich seines Mutes befähigen, um es wieder besser zu machen. Und wer, wenn nicht wir sollte überhaupt noch die Fähigkeit besitzen, zu träumen?


Info: Mein erfolgloser Beitrag beim Harder Literaturwettbewerb zum Thema „Im Westen nichts Neues“

Bildquelle: Unsplash / Pixabay

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